Alfred Adler – aus der Nähe porträtiert

Autorin: Phyllis Bottome
Verlag: Verlag für Tiefenpsychologie und Anthropologie, Berlin 2013, 336 Seiten
Rezensent: Winfried Berner
Datum: 13.01.2014

 

Um ein authentisches Bild von dem Menschen Alfred Adler zu bekommen, ist es ein Glücksfall, dass über den Begründer der Individualpsychologie eine zeitgenössische Biographie vorliegt, die durchaus für sich in Anspruch nimmt, ihn „aus der Nähe“ zu porträtieren. Phyllis Bottome (1882-1963) war eine englische Schriftstellerin; sie lernte Adler und seine Individualpsychologie über ihren Mann Ernan Forbes Dennis um 1930 kennen; die beiden besuchten ihn in Wien und halfen, sein überaus produktives Exil in England und den USA zu organisieren. Adler selbst wünschte, wie sie im Vorwort zur Erstausgabe 1939 schreibt, „dass ich die Geschichte seines Lebens zusammen mit ihm schreibe. Nach seinem Tod bekräftigte seine Familie diese seine Absicht und unterstützte mich in großzügigster Weise.“ (S. 3)

Wie die Kapitel über Adlers frühe Lebensjahre und seinen Werdegang erkennen lassen, hat Adler in Vorbereitung der Biographie viel mit Bottome über seine Erinnerungen und seine Sicht auf die Welt gesprochen. Sowohl in seinen letzten Lebensjahren als auch nach seinem Tod, wo sie bis zum deutschen Einmarsch in Wien lebte, führte Bottome viele Gespräche mit seiner Familie und seinem Freundes- und Bekanntenkreis. Daraus ist eine Biographie entstanden, die sehr authentisch wirkt, aber Distanz vermissen lässt und phasenweise von einer geradezu glorifizierenden Bewunderung geprägt ist. Der Originaltitel von 1939 bringt dies geradezu beispielhaft zum Ausdruck: Alfred Adler – Apostle of Freedom. Diese Glorifizierung wirkt nicht liebedienerisch, sondern scheint Bottomes tiefstes Empfinden zu spiegeln und ist auch wohl noch vom Schmerz über den plötzlichen Tod des verehrten Freundes geprägt. Sie wirkt deshalb nur peinlich, legt aber doch die Vermutung nahe, kein objektives, sondern ein tendenziöses Bild gezeichnet zu bekommen.

Das Buch folgt Adlers Lebensweg von seiner Kindheit und, wie es sich für Individualpsychologen gehört, seinen frühesten Erinnerungen über die Jugendjahre und den Berufseinstieg über sein Wirken als Praktiker und Theoretiker bis hin zu seinem plötzlichen Tod. Sehr kurz kommen dabei die Jahre der Zusammenarbeit und Auseinandersetzung mit Freud – mag sein, dass Adler sich an diese unschön zu Ende gegangene Lebensphase nicht gerne erinnert und seiner Biographin deshalb nicht so viel darüber erzählt hat. Glücklicherweise ist diese Phase in Bernhard Handlbauers Buch „Die-Freud-Adler-Kontroverse“ sehr umfassend und aussagekräftig dokumentiert. Ausgesprochen plastisch wird Adler dagegen als „soziales Wesen“. Als ein äußerst geselliger Mensch, der nicht im Mittelpunkt stehen musste, aber die Fähigkeit besaß, zu den unterschiedlichsten Menschen, Gesunden wie Kranken, einfachen wie hochgebildeten, Kindern wie Erwachsenen, sehr rasch eine tragfähige Beziehung auf der Basis von Respekt und Gleichwertigkeit aufzubauen; ein glänzender Redner, der Welt- und Menschenbilder zu verändern vermochte, aber nur ein widerwilliger Schreiber: Jammerschade, dass es von ihm keine YouTube-Videos gibt.

Die Biographie liest sich gut und unterhaltsam, auch wenn sie vom sprachlichen Ausdruck her für eine renommierte Schriftstellerin zuweilen etwas pauschal und stereotypenhaft wirkt. Das kann nicht nur an der Übersetzung liegen; mehr als einmal hätte ich mir gewünscht, dass persönliche Erlebnisse und Eindrücke mit etwas mehr Genauigkeit der Beobachtung und Präzision im Detail geschildert werden. Trotzdem legt man es mit einem umfassenderen, detailreicheren Bild von Alfred Adler aus der Hand. Obwohl dessen Werk heute selbst vielen Psychologen nicht mehr bekannt ist, hat er unser psychologisches Denken weit mehr geprägt als sein, wenigstens was seinen Namen betrifft, sehr viel prominenterer Zeitgenosse und Konkurrent Sigmund Freud. Das scheint die alte Anekdote zu bestätigen, nach der Adler einmal einen Freund fragte: „Was wird bleiben von meinem Werk?“ Der Freund soll darauf geantwortet haben: „Alles, aber nicht unter deinem Namen.“ Bottomes Biographie macht Lust darauf, sich mit dem Werk Alfred Adlers wieder einmal in Originaltexten zu befassen. Und das ist, bei aller Kritik, das Maximale, was eine Biographie überhaupt erreichen kann.