Das Gewicht der Worte

Autor: Pascal Mercier
Verlag: Hanser-Verlag, München 2020, 714 Seiten
Rezensentin: Doris Schildknecht
Datum: 31.07.2022

 

Der philosophische Roman handelt vom Leben des Übersetzers und Verlegers Simon Leyland. Sein Leben – Leyland ist in Oxford geboren, aufgewachsen und später mit seiner Familie von London nach Triest gezogen – spielt sich in einem bürgerlichen Milieu ab, in dem es um Bücher, im engeren Sinn um Worte, Sätze und Sprachen geht. Leyland ist Sohn einer deutsch-französischen Mutter (Dozentin für Literatur) und eines englischen Vaters (Jurist im Staatsdienst) sowie Neffe eines Professors für orientalische Sprachen.

Eines Tages erleidet er einen Anfall, er kann nicht mehr sprechen, seine schreibende Hand ist gelähmt, und es breitet sich bei ihm das panische Gefühl aus, nie wieder seine Sprache zurückzugewinnen. Er wird untersucht und erhält aufgrund der Verwechslung von Röntgenbildern die Diagnose eines Hirntumors. Ihm wird ein baldiger Tod prognostiziert. Leyland gerät in Todesangst. Er lebt Monate in diesem fürchterlichen Zustand, verkauft seinen Verlag und möchte seinem Leben mit Gift ein Ende setzen, bis sich die Fehldiagnose aufklärt.

Die Zeit danach – Leyland hat jetzt wieder eine Zukunft – bildet den Ausgangspunkt des Romans. Die Geschichte beginnt damit, dass Leyland von Triest nach London fliegt, wo er ein Haus von seinem Onkel geerbt hat. In London drängt sich ihm immer mehr der Wunsch auf, Klarheit über seine Zukunft zu gewinnen. In den folgenden Kapiteln wird Leylands vergangene und auch zukünftige Welt in Triest und London erzählt: Der Leser erfährt vom Herztod seiner Frau Livia, einer französisch-italienischen Auslandskorrespondentin, die den Triester Verlag ihres Vaters erbte, der Grund, den Wohnort nach Triest zu verlegen. Leyland übernahm nach ihrem Tod den Verlag. Viele Jahre später erlitt er den bereits oben erwähnten Anfall.

Der Leser erhält von Kapitel zu Kapitel immer mehr Einblick in Leylands Leben und in seine Freundschaften im Kreis von literarisch Tätigen. Auch wird ausführlich das Leben seiner verstorbenen Frau, seiner beiden Kinder Sophia und Sidney sowie das Leben von den Verlagsinhabern und -mitarbeitern aus Triest und London beschrieben. Anhand der vertieften Gespräche über Vergangenes und Zukünftiges kann man Leylands Entwicklung und die seiner Gesprächspartner gut nachvollziehen.

Leyland wendet sich im Verlauf des Romans immer mehr der Bedeutung von Worten zu. Für ihn sind Worte existentiell (er „erlebt die Dinge erst, wenn er Worte für sie findet“). Als Übersetzer hatte er vor dem Anfall zu sehr „in den Worten gelebt“ und war für seine Familie nie ganz dagewesen, wie seine Tochter ihm mitteilt. In weiter stattfindenden Gesprächen kommt es zu philosophischen Betrachtungen über die Themen Sprache, Zeit, Selbsterleben, Lebensveränderung und Sterblichkeit. Leyland strebt neue Erfahrungen mit der ihm wieder zur Verfügung stehenden Zeit an; er will mit ihr verschwenderisch umgehen, um sein Leben neu zu gestalten. Die Hingabe an die Literatur verhilft ihm dazu. Sie führt zu einer inneren Freiheit, in der die Zeitlichkeit angehalten ist und in der es zu Selbstvergessenheit, aber auch zur Selbstentfaltung kommt.

Es gibt einen zweiten Erzählstrang, nämlich Leylands Briefe an seine verstorbene Frau. In den Schreiben an sie (in einigen Kapiteln sind die Briefe ausführlich dargelegt) sucht er nach Worten für sein Empfinden und Erleben, was im Grunde genommen der Suche nach dem eigenen Selbst entspricht. In den Briefen thematisiert er ihren Tod, seine Gefühle, seinen Anfall und das neu beginnende Leben. Er hat nach dem Anfall den Londoner Verlag und auch Freunde finanziell unterstützt, eine neue Freundschaft mit seinem Nachbarn in London aufgebaut, einige Freunde für das Übersetzen und Verlegen von Büchern im Triester und Londoner Verlag gewonnen.

Leyland beginnt im letzten Drittel der Erzählung einen Roman zu schreiben, um eine eigene Sprache zu entwickeln. Er erlebt das Romanschreiben als Aufwachen: Sein Protagonist Louis F. ist ein pensionierter Französischlehrer, der seines Lebens überdrüssig ist. Er hat die Wiederholungen im Leben satt. Er ist nicht in der Lage, neue Erfahrungen mit sich zu machen. Leyland weiß, dass er mit dieser Romanfigur aus seiner eigenen Seele spricht. Denn Leyland will keine langweiligen, fast leblos empfundenen Wiederholungen mehr erleben, sondern einen Weg für neue Erfahrungen mit sich selbst finden.

Aufgrund der ruhigen und tiefgründigen Erzählform kann der Leser Leylands Lebensentwicklung mit ihren sich verändernden Gedanken, Gefühlen und mit ihrem Hineinwachsen in das „Gewicht der Worte“ gut nachempfinden. Der Autor baut eine Spannung auf, die auf dem Erzählen von schrittweisen, produktiven Veränderungen in Leylands Leben und dem seiner Freunde basiert. In dem Roman werden Lebensthemen und -probleme angesprochen, die jeden von uns betreffen. Immer wieder stoßen wir auf das Zeitthema. Der Autor überzeugt uns als Leser, er lässt Leyland sprechen, dass sich im unaufhaltsamen Fluss der Zeit die Bedeutungen von allen Dingen verändern, das sind Veränderungen, die hauptsächlich das eigene Selbst betreffen.

Durch die Tatsache, dass Leyland vor dem Bruch, der von der Fehldiagnose ausgelöst wurde, immer auf das zukünftige, beginnende Leben gewartet hat, gelingt es dem Autor, Neugierde bei der Leserschaft zu erzeugen und diese anzuregen, darüber nachzudenken, wie man sinnvolle Veränderungen im eigenen Leben erreichen kann. Leyland hatte vor dem Lebensschock nach den Erwartungen anderer gelebt und war durch die Zeit getaumelt. Seine mangelnden Erinnerungen aus der Vergangenheit zeigen an, dass er bisher durch die Welt gegangen war, ohne sich irgendwo intensiv zu fühlen, als hätte er durch sein Vergessen sein bisheriges Leben verloren.

Nicht zuletzt wird auch die Sterblichkeit angesprochen. Sehr einfühlsam wird dem Leser die Einstellung vermittelt, dass jeder bei unerträglichem Leiden im Alter das Recht haben müsse, auf eigenen Wunsch sein Leben zu beenden. Man muss nicht vor dem Tod unbedingt noch schwere Krankheiten durchstehen und ertragen.

Wie der Titel andeutet, handelt der Roman von Worten und Sprache und ihrer Rolle in unserem Leben. Das wird jedoch nicht direkt dargestellt, sondern aufgrund des Handlungs- und Erzählablaufs implizit ausgesponnen. Mithilfe von Bewusstmachung durch sprachliche Reflexion gelingt es Leyland, sein Leben neu auszurichten. Der Protagonist wird von Worten fasziniert, ebenso der Leser, denn Mercier beherrscht die Sprache.

Insgesamt ist der philosophische Roman sehr lesenswert, auch wenn es im Verlauf des Romans manchmal zu Wiederholungen kommt. Den Detailreichtum der Erzählung aufzunehmen ist anstrengend, führt aber dazu, intensiv zu lesen. Romane mit „Worten“ als Gegenstand findet man selten. Der Autor schließt die Themen von menschlicher Verbundenheit, Zeit- und Selbsterleben, Lebensveränderungen und Tod in die Philosophie der Sprache mit ein. Alle existentiellen Themen stehen in Wechselwirkung zueinander und betonen das Ganzheitliche des Menschen.

Die Bedeutung von Worten und Sprache in der menschlichen Entwicklung hat Freud bereits erkannt. In der Psychotherapie, in der die Werkzeuge Sprechen und Verstehen sind, findet im günstigen Fall Heilung oder Besserung durch das Gespräch statt. Der Psychoanalytiker Lorenzer spricht von Sprachzerstörung und Rekonstruktion (1970). Auch die Hingabe an die Literatur ist eine Form des Gesprächs, in der über das Fremdverstehen ein Selbstverstehen (ein Wiederfinden des Ich im Du, Dilthey 1910) stattfindet. Das Buch von Pascal Mercier ist ein schönes Beispiel dafür, welche Kraft und welches Gewicht in Worten steckt.