Denkerin der Stunde – Über Hannah Arendt
Datum: 01.03.2022
Autor: Richard Bernstein
Thema
Hannah Arendt (1906-1975) ist längst von einer umstrittenen Denkerin zu einer Klassikerin
der modernen politischen Theorie geworden – eine Theorie, die aus den Erfahrungen von
Flucht und Staatenlosigkeit schöpfte und zugleich zentrale Phänomene des 21. Jahrhunderts
vorwegnahm. Es gibt viele Linien, die von ihrem Denken ausgehen, eine führt zu dem, was
wir heute „Bürgergesellschaft“ oder „Zivilgesellschaft“ nennen. In den posttotalitären
Demokratien sah sie Gefahren in der einseitigen Orientierung an Arbeit und Konsum, in der
Vereinsamung und Isolation, bürokratischer Apparate, der Abgehobenheit von Politik und der
Macht der Lügen. In den letzten Jahrzehnten hat das Interesse an ihrem Denken weltweit
zugenommen. Arendts Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus und Stalinismus führt zur
Überzeugung, dass der Sinn von politischem Handeln, die Freiheit, das freie, verantwortliche
Handeln ist: Einem auf Intersubjektivität und Pluralität beruhenden Verständnis einer freien
politischen Gesellschaft, als einem durch öffentlicher Debatte und politisches Handeln ständig
lebendig zu erhaltenden Ort der Zivilisation. Gegen Martin Heidegger und mit Immanuel
Kant und Karl Jaspers stimmt sie darin überein: dass „alles Handeln die Verantwortung für
die Menschheit mit übernehmen müsse“.
Autor und Entstehungshintergrund
Richard J. Bernstein, geboren 1932, ist Vera List-Professor für Philosophie an der New
School for Social Research in New York, an der auch Hannah Arendt bis zu ihrem Tod im
Jahr 1975 lehrte.
Er beschäftigt sich unter anderem mit der Hermeneutik, dem Pragmatismus, der Kritischen
Theorie und der Dekonstruktion und arbeitet daran, diese Ansätze miteinander in Dialog zu
bringen. „Liest man Hannah Arendt heute“, schreibt Richard J. Bernstein, im Klappentext,
‚überkommt einen ein fast schon unheimliches Gefühl zeitgenössischer Relevanz.‘ Bernstein,
der Arendt als junger Professor noch selbst kennengelernt hat, bietet anhand zentraler Themen
einen kompakten und kritischen Überblick über das Denken der Theoretikerin und zeigt,
inwiefern ihr Werk auch heute wieder besonders aktuell ist. Die englische Originalausgabe
erschien 2018 unter dem Titel Why Read Hannah Arendt Now.
Aufbau und Inhalt
Einleitung
Arendt, so Bernstein, sei „ausgesprochen empfindsam für einige der tiefgreifendsten
Probleme, Wirrungen und gefährlichen Tendenzen im modernen politischen Leben“ gewesen.
Sie hätte aber auch behauptet, „dass wir selbst in den finstersten Zeiten darauf hoffen können,
irgendeinen Lichtschimmer zu entdecken ein Licht, das weniger Theorien und Begriffen“
entspringe „als vielmehr dem Leben und der Arbeit von Individuen“ (8). Bernstein will sich
auf „zentrale Themen konzentrieren, die für die Probleme und Wirrungen, mit denen wir es
heute zu tun haben, von Relevanz sind“. Er „möchte zeigen, warum wir Hannah Arendt heute lesen sollten – inwiefern ihr Leben und ihr Werk die heutigen finsteren Zeiten erhellen können“ (14f).
Staatenlosigkeit und Flüchtlinge
Bernstein beginnt mit einem Abriss einiger zentraler Stationen ihres Lebens, die ihr Denken
prägten. Dies mache, so Bernstein, „ein grundlegendes Merkmal von Hannah Arendt als
politischer Denkerin deutlich“. Sie hätte die Ansicht vertreten, „seriöses, ernsthaftes Denken
müsse in der eigenen gelebten Erfahrung gründen“ (16f). Arendts „primäre Erfahrung in der
Zeit, als sie aus Deutschland entkam, aus Frankreich floh und nach New York gelangte“, sei
„die eines staatenlosen deutsch-jüdischen Flüchtlings“ gewesen (17). 18 Jahre lang sei Arendt
offiziell staatenlos gewesen, „bis sie amerikanische Staatsbürgerin wurde“. Das sei „der
Hauptgrund dafür, dass sie für die Not der Staatenlosen und den bedrängten Status von
Flüchtlingen so sensibel“ gewesen war. (10)
1951erschien The Origins of Totalitarianism, „ein Buch mit mehr als 500 eng bedruckten
Seiten“ aus dem Bernstein Arendt zitiert: „Staatenlosigkeit ist das neueste Phänomen, die
Staatenlosen sind die neueste Menschengruppe der neueren Geschichte“ (21). Sorgsam
unterscheide sie, betont Bernstein, „zwischen ‚Nation‘ und ‚Staat‘“, nämlich „dass
Staatsbürgerschaft und nationale Zugehörigkeit nicht zu trennen“ seien, „dass nur die
nationale Abstammung den Gesetzesschutz wirklich“ garantiere (23). Letztlich hätten
realgeschichtlich „Nation und Nationalismus über den Staat und den Schutz von
Rechtsansprüchen“ triumphiert. Die „Gefahr dieser Entwicklung“ sei „von Anfang an in der
Struktur des Nationalstaats angelegt“ gewesen (24). So behaupteten rechte Parteien heute,
„nur wer „wirklich“ zu einer Nationalkultur gehöre, verdiene vollständige Rechte“ (25).
Das Recht, Rechte zu haben
„Der Status des staatenlosen Flüchtlings“, schreibt Bernstein, werfe „die schwierige Frage der
unveräußerlichen Rechte und der Menschenrechte auf“ (28). Gehe man zu ihren historischen
Ursprüngen zurück hätten „weder die Franzosen noch die Amerikaner“ diese Rechte „allen
Menschen zugestehen“ wollen – nicht einmal „allen Menschen, die auf ihrem jeweiligen
Territorium lebten“. Entgegen „aller hehren Proklamationen, wonach jeder Mensch von Natur
aus Würde“ besitze, habe sich bald gezeigt, dass sich „die Frage der Menschenrechte mit der
Frage nationaler Selbstbestimmung“ vermischt habe (29). Hannah Arendt hat dazu vermerkt:
„Historisch beispiellos ist nicht der Verlust der Heimat, wohl aber die Unmöglichkeit, eine
neue zu finden […] Der zweite Verlust der Rechtlosen ist der Verlust jeglichen staatlichen
Schutzes“ (32). Bernstein stellt dazu fest: „Millionen Menschen werden heute so behandelt,
als seien sie überflüssig.“ Zwar gehörten „totalitäre Regime wie das nationalsozialistische
Deutschland und Stalins Sowjetunion der Vergangenheit an, doch wir sollten anerkennen,
dass nur ein ganz schmaler Grat dazwischen ver- (34) läuft, ob man Menschen aller Rechte
oder ob man sie ihres Lebens beraubt.“ Die totalitäre „Lösung“ der Überflüssigkeit, so
Bernstein, verfolge „uns noch immer in einer Welt, in der Millionen Menschen wie
Überflüssige behandelt“ würden (35).
Der „beklemmendste Satz“ in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft ist für Bernstein
der letzte Satz des Abschnitts über totale Herrschaft: „So wie in der heutigen Welt totalitäre
Tendenzen überall und nicht nur in totalitär regierten Ländern zu finden sind, so könnte diese
zentrale Institution der totalen Herrschaft leicht den Sturz aller uns bekannten totalitären
Regime überleben“ 28 (42). In Anbetracht der Tatsache, der „immer weiter anwachsenden
Massen an staatenlosen Menschen und Flüchtlingen überall auf der Welt, die behandelt
werden, als seien sie überflüssig“, mahnt Berntsein, „sollten wir Arendts Warnung ernst
nehmen, dass zwischen der Zerstörung des Rechts, Rechte zu haben, und der Vernichtung von
Leben nur eine schmale, fragile Trennlinie“ verlaufe (43).
Loyale Opposition: Arendts Kritik des Zionismus
Als Hannah Arendt 1933 aus Deutschland floh, war sie erschüttert, dass viele ihrer engsten
Freunde und Bekannten die Nationalsozialisten tolerierten oder sogar mit ihnen
zusammenarbeiteten. Sie beschloss Deutschland zu verlassen, um aktiv Widerstand gegen die
Nazis zu leisten. Arendt schloss sich keiner zionistischen Partei an und dachte nie an eine
Alija (eine Einwanderung bzw. »Rückkehr«) nach Palästina. (44) Als „Grund für ihre
Zusammenarbeit mit den Zionisten“ nennt Bernstein, ihren Entschluss, politisch aktiv gegen
Hitler und die Nazis zu kämpften. In dem Moment als „immer mehr grausame Details über
den nationalsozialistischen Massenmord an den Juden ans Licht kamen“, so Bernstein, sahen
(die Zionisten) die Chance gekommen, einen Judenstaat zu gründen“ (46). Zum Dissens mit
den Zionisten kam es im Oktober 1942 auf einem Treffen amerikanischer Zionisten als eine
Resolution verabschiedet wurde, die die ‚Araberfrage‘ ignorierte. (31). Arendt war gegen „die
Teilung Palästinas in zwei Nationalstaaten“. Der Nationalstaat sei für sie keine brauchbare
Lösung gewesen. Sie favorisierte hingegen einen föderativen Staat (53). „Angesichts des
hysterischen Klimas, das damals herrschte, habe Arendt gewusst, dass ihr „Vorschlag für
einen föderativen Staat auf der Grundlage lokaler jüdisch-arabischer Räte von den Zionisten
als ‚Dolchstoß‘ verunglimpft“ werden würde (54 ). Bernstein verweist auf Arendts
„außerordentlich feines Gespür für die tiefsitzenden Probleme und ungelösten Fragen“ wie
auf die „bemerkenswerte Relevanz“ ihrer Beobachtungen und Warnungen, die auch heute,
trotz aller Veränderungen, die sich im Nahen Osten seit den vierziger Jahren vollzogen haben,
akut sind (55).
Rassismus und rassistische Segregation
Arendt sei ihr ganzes Leben lang „an hitzigen Kontroversen beteiligt“ gewesen. Sie habe ihre
„Ansichten so deutlich wie möglich zum Ausdruck“ gebracht, „oftmals einen empfindlichen
Nerv“ getroffen, aber auch „scharfe Kritik auf sich“ gezogen. Ein heftige Kontroverse löste
sie aus, als sie Reflections on Little Rock (Little Rock) veröffentlichte. Anfang der 50er Jahre
hatte der Oberste Gerichtshof der USA einstimmig verfügt, dass die rassistische Segregation
an öffentlichen Schulen gegen den Vierzehnten Verfassungszusatz verstieß (56f). Am 4.
September 1957 machte sich Elizabeth Eckford, ein vierzehn Jahre altes schwarzes Mädchen,
zu ihrem ersten Schultag auf. Der Gouverneur von Arkansas hatte die Nationalgarde seines
Bundesstaates angewiesen, ihr und anderen den Zutritt zur Schule zu verwehren.
Kurz nach diesem Ereignis, berichtet Bernstein, hätten „die Herausgeber des Commentary
Arendt um einen Beitrag über Little Rock“ gebeten. Der Artikel, den sie ablieferte, wurde als
hetzerisch und beleidigend beurteilt und nicht veröffentlicht. Daraufhin habe Arendt den Text
zurückgezogen (57). 1959 veröffentlichte Arendt den Text schließlich in der Zeitschrift
Dissent. Darin behauptete sie, so Bernstein, „gesellschaftlicheDiskriminierung dürfe nicht mit
politischenMitteln abgeschafft werden“. Wollten „weiße Eltern ihre Kinder an Schulen
schicken, an denen nur weiße Kinder seien, so habe die Regierung kein Recht, sich hier
einzumischen“. Nach Meinung Arendts, sei „Bildung Privatsache“, und die Regierung habe
sich „nicht in elterliche Entscheidungen darüber einzumischen, wie sie ihre Kinder erziehen
wollten“. (58) Mit dieser Begründung, folgert Bernstein, sei Arendt jedenfalls „nicht in der
Lage“ gewesen, die „katastrophalen Folgen einer feindseligen politischen, wirtschaftlichen
und gesellschaftlichen Diskriminierung der Schwarzen in Amerika wirklich zu begreifen“.
Obwohl Arendt nur selten von ihrer Meinung abgerückt sei, habe sie doch in diesem Fall
etwas später ihre Fehleinschätzung eingeräumt (60).
Auf der Suche nach den „Elementen, aus denen sich der Totalitarismus kristallisierte“,
richtete sie in der Folge ihren Blick in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft „auf den
Rassismus, der dem Imperialismus innewohne“. Der „imperialistische Rassismus“
‚rechtfertigte‘, so Arend, „das brutale administrative Massaker an Millionen Afrikanern als
legitime Form der Außenpolitik“. Dieser „imperialistische, mörderische, ideologische
Rassismus“ hätte „die rassistische Ideologie der Nazis vorweggenommen (61). Ihr Leben lang habe Arendt „jegliche rassistische Ideologie“ verurteilt. In ihrem Essay Macht und Gewalt,
betone sie,Rassismus sei, „im Unterschied zur Rasse selbst, keine tatsächliche Gegebenheit,
sondern eine zur Ideologie entartete Meinung“, und die Taten, zu denen er führe, seien „keine
bloßen Reflexe, sondern Willensakte, die sich logisch aus gewissen pseudowissenschaftlichen
Theorien“ ergeben würden (62).
Bernstein merkt rückblickend kritisch an: „Obwohl Arendt um den gewaltsamen Charakter
des Rassismus als ideologischem System im europäischen Kontext“ gewusst habe, habe sie
„seine Relevanz für die Erfahrung der Schwarzen in Amerika“ nicht verstanden (62). Sie hätte
durchaus auf ihre „eigene Erfahrung zurückgreifen“ können, wie sie einmal in einem
Interview erklärte, „wenn man als Jude angegriffen werde, müsse man sich als Jude
verteidigen“ (63). „Warum sollte das nicht genauso für Schwarze gelten, wenn sie eindeutig
als Schwarze angegriffen werden?“, fragt Bernstein (64).
Arendts Argumentation in Little Rock lasse sich „mit gutem Grund kritisieren“, doch blicke
„man von heute aus auf diesen Text“, sollte man auch „anerkennen, wie hellsichtig sie“
gewesen sei. Hannah Arendt selbst war skeptisch, ob „Bürgerrechtsgesetze der
Diskriminierung ein Ende“ machen würden. Sie glaubte, „die USA hätten sich nie ehrlich mit
dem ‚zum Ursprung der Vereinigten Staaten gehörenden Verbrechen‘ auseinandergesetzt, die
Schwarzen und die Ureinwohner vom ursprünglichen consensus universalis der
amerikanischen Republik ausgeschlossen zu haben“, so Bernstein (65).
Arendt sei damals sogar verspottet worden „wegen ihrer Behauptung, die Gesetze zur Mischehe, die es in 29 Bundesstaaten gab – Gesetze, die Eheschließungen und sexuelle Beziehungen zwischen
Weißen und Schwarzen verboten –, seien ein viel eklatanterer Verstoß gegen die Verfassung
als die rassistische Segregation an Schulen“ (65). Erst 1967 habe der Oberste Gerichtshof
diese Gesetze für verfassungswidrig erklärt. Für Bernstein war Arendt „ihrer Zeit auch
voraus“, als sie erklärte: „Das Recht zu heiraten, wen man will, ist ein elementares
Menschenrecht“. Auch wenn Arendt mit ihren Argumenten zuweilen falsch gelegen habe,
zeigte sich bei ihr „eine herausragende Tugend: ihr Mut zum Nonkonformismus“ (66).
Die Banalität des Bösen
Als Arendts Bericht über den Eichmann-Prozess in Jerusalem 1963 im New Yorker
veröffentlicht wurde, griff man sie scharf an: Sie entlaste Eichmann und hätte ihn
sympathischer erscheinen lassen als seine jüdischen Opfer. Sie habe die Juden beschuldigt, sie
hätten „an ihrer eigenen Vernichtung mitgewirkt“. Das Schlagwort von der ‚Banalität des
Bösen‘ schien die Vernichtung von Millionen Juden zu trivialisieren. Einige ihrer ältesten und
engsten Freunde brachen die Beziehung zu ihr ab (67).
„Ihre kurze Erörterung der Rolle der Judenräte“, habe nach Überzeugung Bernsteins, „zu
Recht für reichlich Empörung“ gesorgt (68). Der Vorwurf, Arendt habe Eichmann entlastet,
sei jedoch „völlig aus der Luft gegriffen“. Für sie sei er einer der „größten Verbrecher“ der
damaligen Zeit. Wenn sie das Schlagwort von der „Banalität des Bösen“ verwende,
propagiere sie „keine Theorie über (69) das Böse der Nationalsozialisten“, sondern
beschreibe, was „ihr als Tatsache“ erschienen sei. Eichmanns Taten waren ungeheuerlich, er
sei aber kein Ungeheuer (70).
Seit der Veröffentlichung von Eichmann in Jerusalem, notiert Bernstein, werde „breit darüber
diskutiert, wie zutreffend Arendts Darstellung von Eichmann“ ist. Bernsteins Ansicht nach sei
sie „nicht besonders zutreffend.“ Wir wüssten heute „viel mehr über
EichmannsVergangenheit in Deutschland sowie über sein Leben in Argentinien“ (72).
Bernstein stimmt „der Einschätzung des renommierten Holocaustforschers Christopher
Browningzu“, der schreibt: „ ‚Ich betrachte Arendts Begriff von der „Banalität des Bösen“ als
äußerst wichtige Erkenntnis, um viele Täter des Holocaust zu verstehen, nicht aber Eichmann
selbst. Arendt ließ sich von Eichmanns Strategie der Selbstdarstellung zum Teil gerade deshalb täuschen, weil es tatsächlich so viele Täter der Art gab, wie er einer zu sein vorgab.‘“ (73) Der Autor ist überzeugt, dass die „Vorstellung von der Banalität des Bösen“ […] extrem wichtig und, richtig verstanden, von enormer Relevanz für uns Heutige“ sei. (73) Arendt gehe es vor allem darum, dass „wir das Böse nicht mythologisieren sollten“ (74). Die Vorstellung von der Banalität des Bösen sei „auch heute noch relevant“, denn wir müssten uns „mit der Tatsache auseinandersetzen, dass man kein Monster sein muss, um schreckliche Verbrechen zu begehen“. (75)
Wahrheit, Politik und Lüge
Wie Berstein berichtet, hatte Arendt „das Gefühl, über ihren Bericht über den Eichmann-
Prozess seien alle möglichen Lügen in Umlauf“. Sie habe deshalb „ganz grundsätzliche Fragen über Lüge, Wahrheit und Politik aufwerfen“ wollen. Wie man meine, mutmaßt Arendt in ihrem Essay Wahrheit und Politik, scheint „Lügen zum Handwerk nicht nur der Demagogen, sondern auch des Politikers und sogar des Staatsmannes zu gehören“. Arendt fragt: „Sollte etwa Ohnmacht zum Wesen der Wahrheit gehören und Betrug im Wesen der Sache liegen, die wir Macht nennen?“ Zur Beantwortung dieser Frage bemüht Arendt auch die politische Geschichte.
So sei ein „zentrales Thema“ von Platons Staat „der Konflikt zwischen Philosophie und
Politik – zwischen philosophischer Wahrheit und politischer Meinung“ (77f). Bernstein zitiert
Arendt: „In diesem Zusammenhang wurde die Meinung als der eigentliche Gegensatz der
Wahrheit etabliert und mit bloßer Illusion gleichgesetzt“ (78). Entgegen der philosophischen
Tradition, Meinungen gering zu schätzen, preist Arendt Meinung als konstitutiv für politische
Macht und den „Meinungsstreit als konstitutiv für Leben und Würde der Politik“ (79).
Individuen hätten nicht einfach Meinungen; sie bildeten „Meinungen im Zuge und mit Hilfe
der öffentlichen Debatte“ (78). Nach Arendt gebe es „keinen feststehenden, dauerhaften Test
für die Angemessenheit von Meinungen, keine andere Beurteilungsinstanz als die des
besseren Arguments in der öffentlichen Debatte“. Aus diesem Grund erfordere, so der Autor,
„die Meinungsbildung eine Gemeinschaft von politisch Gleichen sowie die Bereitschaft,
Meinungen preiszugeben und der Kritik auszusetzen“ (80).
Das „Gegenteil von Vernunftwahrheit“ ist nach Arendt „Unwissenheit und Irrtum, das
Gegenteil der Tatsachenwahrheit hingegen ist das bewusste Lügen“ (82). Vernunftwahrheiten
als Grundlage der Macht spielten in der Politik kaum, Tatsachenwahrheiten hingegen eine
große Rolle. Beängstigend für uns sei, was „früher ganz unverhohlen in totalitären
Gesellschaften geschah“, werde „heute von führenden Politikern praktiziert“. Es bestehe
„ständig die Gefahr, dass wirkungsvolle Überzeugungsmethoden dazu verwendet“ würden,
„Tatsachenwahrheiten zu leugnen, Fakten in bloße Meinungen zu verwandeln und eine Welt
‚alternativer Fakten‘ zu schaffen“ (83). Bernstein erklärt diese Entwicklung so: „Die
Menschen sind besessen von dem Wunsch, der harten Realität ihres Alltagslebens zu
entfliehen, weil sie ihren gesellschaftlichen Status verloren“ hätten und „die ihnen vertraute
Welt verschwunden“ sei. „Menschen, die das Gefühl“ hätten, „sie seien abgehängt und
vergessen“, sehnten „sich nach einem Narrativ, das den Ängsten und der Not, die sie erleben,
einen Sinn“ gebe – „einen Sinn, der Erlösung von all ihren Sorgen“ verspreche. In einer
solchen Situation könne „ein autoritärer Führer die Ängste der Menschen ausnutzen und die
Unterscheidung zwischen Lügen und Realität verwischen“ (85). Donald Trump habe gelogen
als er behauptete, „die Menschenmenge, die bei seiner Amtseinführung zugegen war, sei
größer gewesen als jede andere zuvor zu diesem Anlass zusammengekommene; obwohl er
nicht die Mehrheit der Stimmen gewann“, sei er beharrlich dabeigeblieben, „das sei auf
millionenfachen Wahlbetrug zurückzuführen“ (86). Arendt habe schon damals gewusst:
„Lügen erscheinen dem Verstand häufig viel einleuchtender und anziehender als die Wirklichkeit, weil der Lügner den großen Vorteil hat, im Voraus zu wissen, was das Publikum zu hören wünscht“ (88).
Zum Schluss des Kapitels hebt Bernstein hervor: Arendt hätte es „mit Sicherheit sehr kritisch“
gesehen, „wenn man simple Vergleiche zwischen der heutigen Welt und totalitären Regimen
ziehen“ würde. „Beängstigend“ aber seien – und „das sollte uns eine Warnung sein – all diese
Ähnlichkeiten zwischen organisierter Lüge, fiktionaler Image-Pflege, Täuschung und
Selbstbetrug, wie sie heute vorherrschen, und den Methoden, die totalitäre Regime zur
Perfektion getrieben haben“ (91). Ihre positive Idee von Politik liefere uns „einen wichtigen
Maßstab, um einschätzen zu können, was heute in der Politik“ fehle – „ein weiterer Grund,
warum wir Hannah Arendt heute lesen sollten“. (93)
Pluralität, Politik und öffentliche Freiheit
In Vita activa analysiert Arendt das „tätige Leben“, das traditionell der vita comtemplativa,
dem „betrachtenden Leben“ gegenübergestellt wurde. Sie unterscheidet drei Formen des
Handelns, welche die vita activa umfassen: Arbeiten, Herstellen, Handeln (96). „Was meint
Arendt, wenn sie davon spricht, das Handeln entspreche der menschlichen Bedingtheit der
Pluralität?“, fragt Bernstein. Pluralität bedeute, so Bernstein weiter, „dass jeder von uns eine
ganz eigene Sicht auf die Welt“ habe (97). Wir handelten aber „gemeinsam mit unseren
Mitmenschen“ und offenbarten, „wer wir als besondere Individuen“ seien (98). In den Augen
Bernsteins sei eines von Arendts „originellsten Konzepten […] die Idee des öffentlichen
Raums“, die er im Folgenden kurz darstellt. Öffentliche Räume existierten nicht „von Natur
aus“; sie müssten „von Menschen künstlich geschaffen werden“. Es sind Räume, in denen wir
„in Diskussion miteinander handeln, reden, Meinungen bilden und überprüfen“. Politik
entstehe nach Arendt „zwischen Menschen“. Als ursprüngliche „für das Handeln erforderliche ‚Staatsform‘“ bezeichnet Arendt die Polis. Politik sei für sie „eine Form des Nicht- Herrschens“. Sie bedeute nicht, dass „ein Individuum oder eine Gruppe über andere“ herrscht.
„Wesentlich für die Politik“ sei „vielmehr politische Gleichheit“; wir debattierten und
handelten immer unter Gleichen (98 f.). „Das Eindrucksvolle an Arendts Charakterisierung
der öffentlichen Freiheit“, meint Bernstein abschließend, sei aber gerade, „dass sie bei ihr im
Gegensatz zu allen Formen autoritärer Unterdrückung und Herrschaft“ stehe (104).
In ihrem Essay über Macht und Gewalt zitiert Hannah Arendt den amerikanischen Soziologen
C. Wright Mills, der mit Nachdruck betont: „Alle Politik ist Kampf um die Macht; aufs
höchste gesteigerte Macht ist Gewalt“ (104). Macht und Gewalt, so der Autor, liesen sich
nach Arendt nicht nur unterscheiden, „es handelt sich vielmehr sogar um gegensätzliche
Begriffe“. Wo „wahre Politik“ regiere, herrsche „rationale Überredung, nicht Gewalt“. Wo
Gewalt regiert, „zerstört sie Macht“ (105). Für Arendt gelte: „Macht entspricht der
menschlichen Fähigkeit, nicht nur zu handeln oder etwas zu tun, sondern sich mit anderen
zusammenzuschließen und im Einvernehmen mit ihnen zu handeln. Über Macht verfügt
niemals ein Einzelner; sie ist im Besitz einer Gruppe und bleibt nur solange existent, als die
Gruppe zusammenhält. Wenn wir von jemand sagen, er »habe die Macht«, heißt das in
Wirklichkeit, dass er von einer bestimmten Anzahl von Menschen ermächtigt ist, in ihrem
Namen zu handeln“ (105) (Macht und Gewalt, S., 45). Das Bemerkenswerte an Arendts
Konzeption von Macht und ihrem Politikverständnis sei aber, dass man sie „nicht als vertikal,
als hierarchisch begreifen“ dürfe. Macht sei bei Arendt „ein horizontaler Begriff: Sie
entspringt und gedeiht, wenn eine Vielheit von Individuen gemeinsam handelt und sich
gegenseitig als politisch Gleiche“ behandele (106).
Um Arendts Ausführungen der Politik abzuschließen – „eine Beschreibung, welche die
Würde von Politik deutlich machen“ solle, möchte Bernstein „die Rolle von Überredung und
Urteilskraft in der Politik erörtern“. Sie denke „dabei an Kants Analyse der reflektierenden
Urteilskraft, eine Art des Nachdenkens über das Besondere, die das Besondere nicht unter
irgendeine allgemeine Regel“ subsumiere. Urteilskraft erfordere „Unterscheidung und die
Erkenntnis, was das Besondere an einer bestimmten Situation ist, mit der man es zu tun“
habe. Urteilskraft verlange eine ‚erweiterte Denkungsart‘, „die darin besteht, dass man mit
Hilfe der Vorstellungskraft in der Lage ist, an der Stelle jedes anderen zu denken“ (109).
Die Amerikanische Revolution und der revolutionäre Geist
Bernstein möchte im folgenden Kapitel der Frage nachgehen, inwiefern Arendts „Analyse von
Sinn und Würde der Politik“ auch für uns heute noch relevant ist (111). Anders als „viele
Historiker, die die Amerikanische Revolution mit dem Befreiungskrieg gleichsetzen“, betone
Hannah Arendt, „das wahrhaft revolutionäre Element sei der Verfassungsakt gewesen“. Dort
hätten „Debatte, Beratung, Streit und Meinungsaustausch“ stattgefunden und „öffentliche
Freiheit“ manifestiert (115). Der Punkt: „Die Gründerväter handelten gemeinsam, um ein
neues Gemeinwesen, eine neue Republik zu schaffen.“ Für Arendt sei deshalb die
„Amerikanische Revolution einer jener besonderen Momente in der Geschichte, in denen sich
Sinn und Würde von Politik konkret manifestiert“ hätten (117). Gleichwohl konfrontierte sie
uns Heutige mit der Frage: „Wie konnte man stabile und dauerhafte politische Institutionen
schaffen, damit die öffentliche Freiheit und das öffentliche Glück, […] weiterhin gedeihen
konnten“ (117 f.)? Arendt notierte dazu: „Nicht das Volk, sondern nur seine gewählten
Repräsentanten hatten Gelegenheit, sich wirklich politisch zu betätigen, was heißt, dass nur
sie in einem positiven Sinne frei waren« (Arendt, Über die Revolution, S. 302). Als „Beispiele
für die Manifestation des revolutionären Geistes“, so Bernstein, nennt „Arendtdie
französischen sociétés révolutionnaires, die Pariser Kommune von 1871, die russischen
Sowjets, die 1905 und dann wieder 1917 geschaffen wurden, sowie die Räte, die in
Deutschland im Zuge des Spartakusaufstands entstanden“. Als diese Räte in Erscheinung
traten, seien sie als spontane Organe des Volkes entstanden, aber auch ebenso rasch
zerschlagen worden – oft (119) von ‚Berufsrevolutionären‘. Es sei dieser ‚verlorene Schatz‘,
so Bernstein, „den Arendt zurückgewinnen“ wolle, als „Benennung einer realen Möglichkeit,
die in unserer Gebürtlichkeit“ wurzele, „in unserer Fähigkeit, zu handeln, etwas in Gang zu
setzen, mit etwas Neuem zu beginnen“ (121).
Trotz aller Begeisterung, die Arendt für das Rätesystem empfand, glaube Bernstein „nicht,
dass sie das Problem, das Thomas Jefferson so sehr umtrieb, je gelöst hat – nämlich wie man
eine stabile, dauerhafte politische Institution entwickelt, in der der revolutionäre Geist ein
Zuhause findet“ (122). Aber Arendt erkenne „etwas Wichtiges, was den Geist dieser Räte“
angehe und „was für uns heute nach wie vor relevant“ sei: „Sie bringt zum Ausdruck, was
viele Menschen heutzutage in ihrem tiefsten Innern empfinden“ (122). Arendt formuliere hier,
bemerkt Bernstein, „was für sie stets grundlegend war und was auch für uns fundamental sein
sollte – der Wunsch der Menschen, dass ihre Stimme in der Öffentlichkeit Gehör findet, dass
sie an der Gestaltung ihres politischen Lebens wirklich teilhaben können“ (123). Die Parteien
seien „dafür ganz ungeeignet; da sind wir doch nur Stimmvieh“, zitiert Bernstein Arendt (100)
in Macht und Gewalt. (Arendt, Macht und Gewalt, S. 132 f.)
Was Arendt heute so aktuell mache, bemerkt Bernstein am Ende dieses Kapitels, sei die
„Mischung aus ihren düsteren Warnungen vor herrschenden Tendenzen in der Gesellschaft,
ähnlich denen, die sich im Totalitarismus“ kristallisierten, und ihrer „tiefen Überzeugung,
dass Menschen zusammenkommen und gemeinsam handeln können, dass sie ihre öffentliche
Freiheit ausüben und dem Gang der Geschichte eine Wendung geben“ könnten (124).
Persönliche und politische Verantwortung
Zum Schluss seines Essays diskutiert der Autor den Begriff der Verantwortung bei Arendt.
Verantwortung sei bei ihr ein Thema, das in „seinen zahlreichen Varianten“ ihr gesamtes
Leben und Werk durchziehe, „nämlich die Notwendigkeit, Verantwortung für unser
politisches Leben zu übernehmen“ (125 f.). Arendt sei eine „gnadenlose Kritikerin“ einer
deterministischen Geschichtsphilosophie, „aller expliziten oder impliziten Berufungen auf
irgendeine historische Notwendigkeit“ (126). „Ihre Suche nach dem Sinn und der Würde von
Politik“ bemerkt Bernstein, „sollte ein Akt der Rettung und der Wiedergewinnung sein.“
Arendt sei es immer darum gegangen, „den revolutionären Geist lebendig halten – die
spontane Schaffung von Räumen fassbarer, weltlicher, öffentlicher Freiheit“ (128). Vor allem
müssten wir „der Versuchung widerstehen, aus der Politik auszusteigen und uns dem Glauben
hinzugeben, angesichts der aktuellen Abscheulichkeit und Verdorbenheit könne man ohnehin
nichts machen“. Wir würden dann auch „zulassen, dass wir am Schlimmsten mitschuldig
werden“. Arendts „lebenslanges Projekt“ habe darin bestanden, „zu verstehen, zu begreifen,
und zwar so, dass wir auf ehrliche Weise mit der Finsternis unserer Zeiten und mit den
Quellen des Lichts konfrontiert“ sind (128). Richard J. Bernstein empfiehlt uns Hannah
Arendt lesen, „weil sie die Gefahren, mit denen wir es nach wie vor zu tun haben, so
scharfsichtig erkannt und uns davor gewarnt“ habe, „darüber gleichgültig oder zynisch zu
werden“. Insbesondere habe sie uns dazu gedrängt, „Verantwortung für unser politisches
Schicksal zu übernehmen“ (129).
Diskussion
Hannah Arendt gehört zu jenen Autoren, die seit Jahren in aller Munde sind. Ob in Europa,
Japan, China, Brasilien oder Australien, Arendt gilt nach wie vor als eine der wichtigsten
Denkerinnen der politischen Theorie. Dies hat auch mit dem Zusammenbruch des
Kommunismus und Marxismus in Osteuropa zu tun. Vieles, was Arendt dazu gesagt hatte,
schien sich zu bestätigen. Hatte sie doch darübergeschrieben, wie Macht entsteht, wenn
Menschen aus ihrer Privatheit in die Öffentlichkeit treten und einen Neuanfang versuchen.
Ebenso warnte sie vor dem Schiffbruch der Freiheit auf den Klippen der Armut und Not. Dies
schien sich in der postkommunistischen Ära, insbesondere in Russland, aber auch im
arabischen Frühling, zu bestätigen. Gleichwohl unterschätzte sie als Denkerin „aus finsteren
Zeiten“ die Fähigkeit der Demokratisierung von Parteien und Gesellschaft in Deutschland
nach 1968, die Kraft der Zivilgesellschaft wie die Lebendigkeit der parlamentarische
Demokratie.
Alle großen Revolutionen der Geschichte begannen auf der Straße. Seit Jahren nimmt die
Zahl der Demonstrationen zu – weltweit. Von Belarus bis Honkong. Zivilgesellschaften
kämpfen überall für Demokratie, Geschlechtergerechtigkeit, Rechtsstaatlichkeit und Freiheit.
Das Internet hat die Proteste, aber auch den Charakter der Öffentlichkeit verändert. Es ist
leichter geworden sich spontan zu versammeln. Plötzlich waren sie da. Jeden Freitag gingen
sie für den Klimaschutz und für ein gutes Leben auf die Straße – bis Corona kam.
Was hat das mit Hannah Arendt zu tun? Für Arendt besteht genau darin der Sinn der Politik,
im spontanen Schritt zu den anderen, hin zu einem „Wir“, dem Zusammenhandeln in einem
gemeinsam geschaffenen öffentlichen Raum. „Wahres politisches Handeln“, so Arendt, zeige
sich „als Gruppenakt.[…] Und bei allem, was immer Sie allein tun, sind Sie wirklich kein
politisch Handelnder, sondern dann sind Sie ein Anarchist“ (Arendt, 1996, 81) [1]. So kann
politische Macht entstehen. Die Macht der vielen zeigt sich im gemeinsamen
Handlungsvollzug als weltverändernde Praxis: Aktionen sind politisch, wenn sie die Welt
verändern. Hier stimmt Arendt als Radikaldemokratin mit dem frühen Marx überein. Diesen
Schritt kann man nicht von oben delegieren, man muss ihn persönlich machen. Dort, wo
Menschen zu Hause bleiben und alles den Parteien überlassen, kann man nach Arendt nicht
von politischer Freiheit sprechen. Handeln erfordert Mut. Da Handeln „letztlich nicht rational
begründet werden“ könne, so Arendt, mache sich der Handelnde „immer schuldig“ (Arendt,
1992, 187). In der Bereitschaft der Menschen, einander wechselseitig zu verzeihen, könne der
Raum des Politischen immer wieder neu geboren werden.
Handelnde Menschen zeichneten sich durch Weltzugewandtheit, Spontaneität und
Verantwortung aus: Machiavelli, die amerikanischen Gründerväter, Rosa Luxemburg, Rene
Char, Bernard Lazare und Judah Mangnes. Was Arendt bewundert, ist der Verzicht auf die
vorrangige Sorge um sich selbst. Ihr Handeln sei keine Frage der Intelligenz, sondern der
Herzensbildung. In vormodernen Zeiten fände man sie bei den hommes des lettres:
Montaignes, Montesquieus.
Was im Selbstverständnis der Neuzeit als großer Fortschritt galt, Emanzipation der
Arbeiterschaft und der Frau, wird von Arendt als sekundäre politische Leistung gesehen. Die
Amerikanische Revolution ist deshalb für Arendt das Paradigma einer wahrhaft geglückten
Revolution. Sie war eine politische ohne soziale Revolution, eine Staatsgründung ohne
Klassenkampf. Den Ursprung allen Terrors, zunächst in der Französischen, dann in der
Russischen Revolution, sieht sie im Vorrang des Sozialen, in der Gefahr, die aus der Armut
erwächst. Die „tobende Gewalt, mit der sich das Elend Luft“ mache, ziehe „ihre elementare
Kraft aus der „Notwendigkeit, die allem Biologischen als solchem innewohnt“ (Arendt, 1974,
143) [2].
Gleichwohl begeisterte sich Arendt für die Geschichte der Arbeiter-, insbesondere der
revolutionären Rätebewegungen und sympathisierte mit der radikaldemokratischen
Studentenbewegung der späten 60er Jahre und ihre „Lust am Handeln“ und ihre „Zuversicht,
die Dinge aus eigener Kraft ändern zu können“ (Arendt, 1969, 107) [3]. Diese Generation, die
„ausschließlich aus moralischen Motiven“ handele, habe erfahren, „dass das Handeln Spaß“
macht; „das 18. Jahrhundert“ habe das ‚public happiness‘, das Glück des Öffentlichen
genannt“. Wenn der Mensch handele, so Arendt, erschließe sich ihm ein „bestimmte
Dimension menschlicher Existenz“, die ihm „sonst verschlossen“ bleibe und die „irgendwie
zum vollgültigen Glück“ gehöre (109). Manche Ziele der Bewegung, wie in Amerika,
begrüßte sie, andere hielt sie „für verstiegen und gefährlichen Unsinn“, wie etwa die
Politisierung und Umfunktionierung der Universitäten und ähnliche Dinge“ (107).
In einem Brief an Karl Jaspers vom Juni 1968 notierte sie: „Mir scheint, die Kinder des
nächsten Jahrhunderts werden das Jahr 1968 mal so lernen wie wir das Jahr 1848“ (Arendt,
Jaspers, Briefwechsel, 715 f.) [4]. 1970 Jahre änderte sich ihr Urteil. In einem Interview mit
Adalbert Reif kritisierte sie die „theoretische Sterilität“ (111) und die Realitätsferne (117) der
westdeutschen Linken; statt mit dem Vietnam-Krieg, hätte sie sich lieber mit der Oder-Neiße-
Grenze und der deutschen Teilung (Arendt, 1969, 114) beschäftigen sollen. Manche Ziele
teilte Arendt, andere hielt sie „für verstiegen und gefährlichen Unsinn“ (23). Sie hielt ihnen
„unsinnige Schlagworte“ aus „marxistischen Restbeständen“ (23), wie „‚Polizeistaat‘,
‚latenter Faschismus des Spätkapitalismus‘, Dritte Welt‘ oder, mit erheblich mehr
Berechtigung Konsumgesellschaft‘“, (Arendt, 1969, 18, 25) vor. Die „Prediger der Gewalt“,
wie Jean-Paul Sartre, die nicht gemerkt hätten, dass sie keine Marxisten sind, seien
realitätsferner als Sorel oder Marx es je gewesen wären.
Dass „man die Wirklichkeit des zwanzigsten Jahrhunderts mit Kategorien des neuzehnten zu
verstehen“ suchte zu erklären (27, 111) führte Arendt jedoch weniger auf die intellektuelle
Unfähigkeit dieser Generation zurück als auf ihren „Konservatismus“, den Fortschrittsbegriff,
„der seit mehr als hundert Jahren der gesamten Linken von den Liberalen über die Sozialisten
zu den Kommunisten gewissermaßen heilig gewesen ist“ (28), aufzugeben und den wir
nirgends auf so einem „hohen geistigen Niveau“ fänden wie bei Karl Marx.
„Was die Studenten überall auf der Welt gemeinsam hätten“, sei „dass sie sich überall gegen
die bestehenden Bürokratien“ richteten. Überall sei es den „ungeheuren Parteiapparaten“
gelungen, die Staatsbürger, inklusive der Parteimitglieder völlig zu entmachten“ (80). Die
„einzige positive Losung der neuen Bewegung, der Ruf nach ‚Mitbestimmungsdemokratie‘,
stamme „aus dem Besten der revolutionären Tradition: dem Rätesystem“. Dazu bedürfe es
nicht der Gewalt. Dies Tradition lasse sich aber „weder dem Wortlaut noch dem Sinn nach bei
Marx und Lenin nachweisen“. Sie hätten nur als „vorübergehende Organe revolutionärer
Aktion“ (25) gegolten. Spontane Rätebildungen, unabhängig von allen Theorien, könne man
in allen Revolutionen nachweisen – nämlich aus der Erfahrung des Miteinander-Handelns und
aus dem Mitbestimmen-Wollen“ (131). „Das Räte-System scheint“, so Arendt, „im Wesen
des Handelns zu liegen“ (132). Im Rätestaat sieht Arendt folglich einen Ansatz für einen
neuen Staatsbegriff, ein föderales System, „das von unten beginnt, sich nach oben fortsetzt
und schließlich zu einem Parlament führt“ (132). Räte sollen die Nachteile einer nach Parteien
organisierten Volksvertretung, die durch Klasseninteressen bestimmt sei, überwinden.
Das Dilemma der Revolutionen liegt für Arendt im Scheitern der Verstetigung und
Institutionalisierung des revolutionären Geistes. Bereits der radikale Demokrat unter den
Vätern der amerikanischen Verfassung, Thoms Jefferson, so Arendt „hatte eine Ahnung
davon, wie gefährlich es sein könnte, dem Volk nicht mehr Platz in der Öffentlichkeit
einzuräumen als die Wahlurne“. Dies könne nur „darauf hinauslaufen, einem Volk von
Privatleuten alle Macht auszuliefern, da sie ja als Bürger kaum eine Funktion“ hätten (Arendt,
1965, 324) [5].
Arendt sieht den Sinn von Revolutionen in „der Verwirklichung eines der größten und
grundlegendsten Potenziale, nämlich die unvergleichliche Erfahrung, frei zu sein für einen
Neuanfang, woraus der Stolz erwachse „die Welt für einen Novus Ordo Saeclorum geöffnet
zu haben“ (Arendt, 2018, 38) [6]. Für Arendt ist der Sinn der Politik Freiheit. Nicht allein
Freiheit von Unterdrückung und Zwang, sondern „frei zu sein für einen Neuanfang“ – im
besten Falle für die Beteiligung an den Regierungsgeschäften. Diese Art Freiheit, also „ein
politisches Leben zu führen“ (Arendt 2018, 16), realisiert sich beim Zusammenwirken von
Freien und Gleichen im politischen Raum, wo man um die richtige Form des
Zusammenlebens streitet. Sie setzt aber die Befreiung der Individuen von Zwang und Not
schon voraus. Es seien „nie die Erniedrigten und Beleidigten selber“ gewesen, die eine
spontane politische Bewegung in Gang setzten, „sondern diejenigen, die nicht erniedrigt und
beleidigt waren, es aber nicht ertragen konnten, dass andere es waren“ (Arendt, 1994, 108 f.)
bemerkt Arendt in ihrem Essay Macht und Gewalt. Wer weiß heute noch, dass der Gründer
der deutschen Sozialdemokratie Ferdinand Lassalle, ein Unternehmersohn war? Die
amerikanischen Bürger und die französischen Intellektuellen, die die großen Revolutionen in
Gang setzten, waren schon frei. Sie lebten von ihren Renten.
Im Zentrum von Arendts Denken steht der Totalitarismus und seine Entstehung. Wenn sie von
Totalitarismus sprach, meinte sich nicht alle kommunistischen und rechtsgerichteten Regime,
sondern den Nationalsozialismus und den Stalinismus. Mussolinis Faschismus zählte sie nicht
dazu. Die Gewichtung des Terrors und die Konzentrations- und Vernichtungslager galten für
sie als die entscheidenden totalitären Merkmale. Als erste Theoretikerin hat Arendt das
Phänomen des Totalitarismus, der inmitten der abendländischen Zivilisation entstanden ist,
als eine völlig neue Form politischer Macht, als Phänomen der Weltentfremdung, analysiert.
„Weltentfremdung und nicht Selbstentfremdung“, wie bei Karl Marx, ist für Arendt das
„Kennzeichen der Neuzeit“ (Vita activa, 149) [7]. „Welt“ ist für Arendt der Gegenbegriff zu
den Atomisierungs- und Funktionalisierungstendenzen moderner Massengesellschaften, in
denen die Möglichkeiten menschlicher Begegnungen und Austausch über öffentliche
Angelegenheiten durch die Zwänge der Arbeits- und Konsumgesellschaft eingeschränkt
werden. „Die Reduzierung des menschlichen Lebens auf das „bloße Leben“ im Sinne der
nackten materiellen Reproduktion“, so die Arendt-Forscherin Waltraud Meints-Stender, sei
„die Konstellation, die Hannah Arendt vor Augen hatte, als sie von der Arbeitsgesellschaft“
gesprochen habe, „in der nicht nur die instrumentellen Tätigkeiten des Arbeitens und
Herstellens alle anderen Tätigkeiten des Menschen“ verdrängten, sondern auch „die
Möglichkeit des Handelns in einer öffentlichen und politischen Welt radikal beschädigt“
(Meints-Stender, 252, 2007) [8] werde. Freiheit lässt sich für Arendt nicht im Rückzug aus
dem öffentlichen Raum, noch durch die revolutionäre Umgestaltung der
Eigentumsverhältnisse, sondern nur im kommunikativen Austausch mit anderen ermöglichen.
Historisch ist der narzisstische Totalitarismus auf dem Boden einer Massendemokratie
entstanden. Der in modernen Gesellschaften angelegte Privatismus wie die Entpolitisierung
der Bevölkerung durch die Vorherrschaft hochbürokratisierter Verwaltungen, Verbände,
Parteien und Parlamente, führt, wie Arendt in ihren Totalitarismus Studien ausführt, zu
Mobilisierung der Unpolitischen. Dies mache die totalitäre Herrschaft sozialpsychologisch
erst möglich. Auf diese Analyse stützt sich Arendts These von der „Banalität des Bösen“. Es
sei nicht der Intellektuelle oder der Bohemien wie Goebbels, noch ein „pervertierter
Fanatiker“ wie Hitler, noch ein „Abenteurer wie Göring“, sondern der „Spießer“, wie
Heinrich Himmler, mit „allem Anschein der Respektabilität, mit allen Gewohnheiten des
guten Familienvaters, der seine Frau nicht betrügt und für seine Kinder eine anständige
Zukunft sicher will“, der eine „das gesamte Land umfassende Terrororganisation bewusst auf
der Annahme aufbaut, dass die meisten Menschen ‚jobholders‘ und gute Familienväter“ sind.
Der treusorgende Hausvater, der um nichts so besorgt war, wie die Securität, sich unter dem
Druck der chaotischen ökonomischen Bedingungen unserer Zeit in einen Abenteurer wider
Willen verwandelte […] und bereit war, um der Pension, der Lebensversicherung, der
gesicherten Existenz von Frau und Kindern willen, Gesinnung, Ehre und menschliche Würde
preiszugeben“ (Arendt, 1976, 40 f.) [9]. Arendt behauptet damit nicht, „dass es in jedem von
uns einen Eichmann gäbe“; das heiße aber nicht, so Arendt, „dass nicht eine ganz schöne
Anzahl von Eichmann“ existierten (Arendt, 1996, 79).
Die Freiheit, frei zu sein
Hannah Arendt ist nicht nur eine große politische Theoretikerin des 20. Jahrhunderts, sondern
auch eine öffentliche Person, die bereit war in finsterer Zeit Verantwortung für sich und
andere zu übernehmen. Sie hat das erlebt wovon sie spricht. Das macht sie zur Ikone. Was
heute auch an ihr fasziniert“, notiert Ralf Fücks, „ist vor allem ihr ‚Republikanismus‘, ihr
spezifisches Verständnis von Politik als einer Sphäre der Freiheit“ (Hannah Arendt:
Verborgene Tradition – Unzeitgemäße Aktualität? 2007, 9). Arendt fokussierte ihren Begriff
von Politik nicht auf das Ökonomische, ein Grund, warum sich Linke lange nicht für sie
interessierten. Es gehört zum Standartargument „linker“ Kritik, Arendt habe sich nicht für die
soziale Frage interessiert. So beklagte jüngst Thomas Asseuher in der Wochenzeitung Die
Zeit, „Arendts rätselhaftes Desinteresse an Gerechtigkeitsfragen“ (Assheuer, 52) [11].
Arendt beharre mit Recht darauf, insistiert Jürgen Habermas schon 1981, „dass die technisch-
ökonomische Bewältigung der Armut keineswegs schon die praktisch-politische Sicherung
der öffentlichen Freiheit“ bedeute (Habermas, 1981, 239). In späteren Äußerungen, wie in der
Diskussion in Toronto 1972 (Arendt, 1996) [12], zeigt sich, dass Arendt nicht der Auffassung
war, soziale Fragen seien nicht von Bedeutung. Vielmehr war sie mit Friedrich Engels der
Meinung, dass die „Verwaltung der Sachen“ in die vorpolitisches Sphäre gehöre, in das Reich
der Notwendigkeit. Arendt betonte die Bedeutung von Besitz für „Möglichkeiten für die
Freiheit“ (93) und regte Besitzbildung an. So sollte es keine Diskussion darüber geben, dass
jedem eine anständige Wohnung gebührt“ (91). Man könnte ergänzen: gesunde Luft, Wasser-
und Energieversorgung, Kinderbetreuung, gesundes Essen, ein gerechtes Bildungs- und
Gesundheitssystem, demokratisches Wirtschaften und demokratische Eigentumsverhältnisse –
das würde die Freiheitsspielräume deutlich erweitern. Letztlich sei es die „moderne Technik“,
der wir die Freiheit von der Notwendigkeit zu verdanken hätten (90 f., 100). Soziale
Sicherheit galt für Arendt immer als Voraussetzung von Freiheit, eine Position, die Arendt
bereits vor ihren Schriften wie Ursprünge und Elemente totaler Herrschaft und Vita activa
vertrat.
Kritische Stimmen
Während Arendt auch außerhalb der politischen Theorie fast schon wie ein Ikone
aufgenommen wird, werden „viele Facetten ihres Denkens“, so Marianne Zepp und Stefanie
Rosenmüller in dem Sonderband zu einer Tagung der Heinrich-Böll-Stiftung Oldenburg und
dem Zentrum für Philosophie und Grundlagen der Wissenschaft der Justus-Liebig-Universität
Gießen, „die den Rückgriff auf die Antike machen, vom derzeitigen philosophischen Diskurs
als nostalgisch oder melancholisch, zumindest als ambivalent oder gar als gescheitert
angesehen“ (Verborgene Tradition, 14). Es gibt irritierende Widersprüche in ihrem Werk,
die in der Arendt-Forschung kontrovers diskutiert werden. Ihr Buch Über die Revolution
findet Habermas zwar „spannend und lehrreich“, aber auch imposant einseitig, wenn sie „ihre
Geschichte von den beiden Revolutionen: einer guten und bösen Revolution“ (Habermas,
1981, 223) [14] erfindet. Ihrer These, von der Weltentfremdung der frühzeitlichen
Wissenschaft durch das Experiment und die Technik, widerspricht Otfried Höffe. Im
Gegenteil, „an die Stelle des ‚naiven‘ unmittelbaren Bezugs trete „eine Mediatisierung“ – und
diese diene der Wissenschaftlichkeit (Höffe, 1993, 59). Umstritten ist, ob die Spezifik des
Nationalsozialismus oder des Stalinismus in den Elementen und Ursprüngen begriffen wird.
So findet sich in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft eine eurozentrisch verzerrende
Sichtweise auf Afrika. Im Zuge der Black Lives Matter-Bewegung wird über die ‚blinden
Flecken‘ in Arendts Werk diskutiert.
Die Aktualität Hanna Arendts – Pluralität und Diversität
Gleichwohl enthält der Versuch Arendts, Politik neu zu begründen, einen produktiven
Widerspruch. Es ist ein Versuch, ohne essentialistische Vorgaben, „ohne Geländer“, Politik
als „reine Praxis“ neu zu denken. Nach Arendt kann sie erfahren werden, wenn Verschiedene
unter Gleichen in einem öffentlichen Raum zusammentreffen. Pluralität und Natalität sind
jetzt die „Elementarkategorien“ (Volker Gerhardt) des Politischen. Peter E. Gordon,
Professor für Geschichte in Harvard, sieht gerade darin, die Relevanz Arendtschen Denkens
heute, wenn sie behauptet, „dass menschliches Handeln nur zu sich selbst kommen“ könne,
wenn es sich aller vorpolitischen Gewissheiten entledige (Verborgene Traditionen, 18). Um
Mentalitäten, die den Totalitarismus ermöglichten, zu verstehen, rekonstruiert Arendt die
totalitären Tendenzen in der westlichen Tradition von Platon bis Marx. Arendts Suche nach
der Praxis vor der philosophischen Grundlegung, meint Dana Villa, Professor für Politische
Theorie an der Universität Notre Dame, habe das „nicht-normative Ziel, eine philosophische
Darstellung der Bedeutung des politischen Handelns zu liefern“ (Verborgene, 20). Folgt man
dem US-amerikanischen Wissenschaftler Jerome Kohn, langjähriger Freund und Mitarbeiter
Arendts an der New School in New York, der ihr Werk, insbesondere ihre unveröffentlichten
Schriften, einer weltweiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht hat, habe Arendt eine Theorie
des politischen Handelns entwickelt, die „sie bei Marx um das Element der Freiheit,
hergestellt im Akt der Revolution, bereichert“ sehe. „Dieses Handeln“ sei „für sie nur möglich
durch die Rückbindung an eine Praxis, die an die Fähigkeiten von Einbildungskraft und
Initiative gebunden ist“ (Verborgene Tradition, 15). Der Frankfurter Philosoph Rainer Forst
liest Arendt mit dem Focus auf die Gefahren des Totalitarismus und bezeichnet ihre politische
Theorie in Anlehnung an die US-amerikanische Politologin Judith Shklar als „republikanism
of fear“, die ihre Funktion darin finde, „die Pluralität als Kraft gegen die totalitäre Zerstörung
der menschlichen Fähigkeiten zu Pluralität und Spontaneität“ gegen die „Reduktion durch
Weltzerfall und atomistische Isolation in bloßes Menschenmaterial“ (27) einzusetzen.
Die besondere Aktualität Arendts ergebe sich nach der US-amerikanische Professorin für
Politische Philosophie an der Yale-University Seyla Benhabib aus ihren Analysen der
Moderne wie sie sie vor allem in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft entwickele.
Arendt hat sich – mit ihren Analysen zum Charakter des totalitären Regimes, zum
Antisemitismus und Rassismus, zum Flüchtlingswesen usw. – dabei Bereichen zugewandt,
die für einen Teil der Linken mit ihrer Tendenz zum Ökonomismus und Reduktionismus auf
Fragen des Klassenkampfes lange tabuisiert wurden. In Ursprünge und Elemente totaler
Herrschaft beschreibt Arendt jene totalitäre Dynamik des 20. Jahrhunderts, die menschliche
Wesen überflüssig macht: die durch den Imperialismus verursachte Krise des Nationalstaates,
die totalisierende Einstellung in der Politik und die entfesselte Barbarei. „Im
Überflüssigmachen von immer mehr Menschen“ habe Arendt „die größte Gefahr und das
größte Übel der modernen Gesellschaft“ gesehen (254) [15], bemerkt Meints-Stender. „Gegen
essentialistische Identitätskonzepte im Bereich des Politischen“, postuliere Arendt „ein
Konzept von Bürgerrechten, das universelle Menschenrechte politisch“ (258) garantiert.
Arendt war strikt gegen jeden Nationalismus, auch den jüdischen. Sie wandte sich gegen jede
Art von Stammesdenken. Antiuniversalismus oder Kulturrelativismus, findet man bei ihr
nicht.
Fazit
Für Ralf Dahrendorf war Arendt eine „warmherzige und zugleich geistig fast überlebendige
Frau, eine zentrale Figur im intellektuellen Leben der Zeit vor und nach dem Zweiten
Weltkrieg.“ Als Anti-akademische Denkerin als Anti-Intellektuelle weiß sie um die
Verführbarkeit des Geistes, der falschen Bildung, den Gefahren des Denkens. Dahrendorf
zählt sie, neben Karl Popper, Raymond Aron und Isaiah Berlin zu den Erasmiern, weil sie den
beiden großen Versuchungen der Unfreiheit widerstanden haben. Mit Erasmus von Rotterdam
teilen sie die Tugend der Freiheit. „Kaum einer habe wie sie“, so Dahrendorf, „den Mut
bewiesen, die eigene Position unter Gegnern, ja Feinden zu vertreten. Das sei für sie eine
schlichte Lebenstatsache, dass man mit Gegensätzen leben muss und kann (Dahrendorf, 2006,
89).“ [18] Hannah Arendt wusste: In der dynamisch sich entwickelnden Moderne ist die
Demokratie immer bedroht und muss verteidigt und weiterentwickelt werden. Die Demokratie
bedarf nicht nur Institutionen, sondern auch Menschen, die sich für sie einsetzen. Der
Philosoph Dieter Thomä erklärt in seinem Buch Warum Demokratien Helden brauchen
warum heute wieder Menschen gefragt sind, die über sich hinauswachsen und andere
motivieren, es ihnen gleichzutun. Inzwischen gibt es von diesen Menschen immer mehr. Man
sollte das Heldentum nicht denen überlassen, die autoritär und ethnisch denken.
Hannah Arendt war eine public intellectual. Im Zentrum ihres Denkens steht die Fragen „Wie
lässt sich Freiheit politisch verwirklichen, wie dem totalitären Denken widerstehen?“ Mit
ihren Texten mischte sie sich in öffentliche Debatten ein oder löste sie aus. Dabei erreichte sie
ein breites Publikum. Ihre Texte haben die Kraft dem Denken auf die Sprünge zu helfen,
indem sie tradierte Denkmuster stören und in Frage stellen. Einen Weg zurück in die
Tradition als einer geschichtlichen Autorität – sei es das revolutionäre Proletariat, das Volk
oder der Fortschritt – gibt es bei ihr nicht. Arendts Denken läuft nicht Gefahr beliebig oder
postmodern zu sein. Arendt erkennt die fundamentale Krise der Ethik und der Moral und
thematisiert diese als eine Krise des modernen Politikverständnisses. Das Ende der
Mündigkeit sieht sie im Rückzug allein auf das private Glück, in der Unfähigkeit des
selbstständigen Denkens und Urteilens und mangelnder Empathie.
Arendt ist Stichwortgeberin zu aktuellen Themen, wie Flucht, Antisemitismus, Rassismus,
Individualismus, Pluralität, Demokratisierung, Wahrheit und Lüge in der Politik,
Zivilgesellschaft, totalitäre Bewegungen und totalitäre Regierungsformen. Arendt greift auch
philosophische Fragestellungen auf, die sie dem Themenfeld des Politischen öffnet, wie die
Fragen, nach dem „Denken ohne Geländer“, den Grundbedingungen menschlichen In-der-
Welt-Seins, dem Verhältnis von Subjektivität und Intersubjektivität und damit die Frage nach
der Konstitution des Selbst und den Praktiken des Lebensvollzugs. Arendts Schriften sind oft
Gedankenexperimente mit offenen Enden. Es scheint deshalb wichtiger, ihre Ansätze
weiterzuentwickeln, als sich auf argumentative Schwächen und Widersprüche zu
konzentrieren. Wie kann man lernen zu verstehen, was in der Welt von heute geschieht? Wie
kann man denken und handeln? Bernstein hat mit seinem Buch Arendts Denken lebendig
gehalten und ermutigt die nächste Generation, einen neuen Anfang zu setzen, Verantwortung
zu übernehmen für das, was in ihrem Namen geschieht
[1] Hannah Arendt: Ich will verstehen. Selbstauskünfte zu Leben und Werk, München 1996.
[2] Hannah Arendt: Über die Revolution, München 1974.
[3] Hannah Arendt: Macht und Gewalt, München 19949
[4] Hannah Arendt: Karl Jaspers: Briefwechsel 1926–1969, München, Zürich 1993.
[5] Hannah Arendt: Über die Revolution, München 1965.
[6] Hannah Arendt: Die Freiheit, frei zu sein, München 2018.
[7] Hannah Arendt: Vita activa oder vom tätigen Leben, München 1992.
[8] Waltraud Meints-Stender: Hannah Arendt und das Problem der Exklusion – eine
Aktualisierung, in: Hannah Arendt: Verborgene Tradition – Unzeitgemäße Aktualität, hg.
Heinrich-Böll-Stiftung, Berlin 2007.
[9] Hannah Arendt: Die verborgene Tradition, Frankfurt 1976.
[10] Otfried Höffe: Politische Ethik im Gespräch mit Hannah Arendt, in: Die Zukunft des
Politischen. Ausblicke auf Hannah Arendt, (Hrsg.) Peter Kemper, Frankfurt am Main 1993.
[11] Thomas Assheuer: Was würde Hannah Arendt dazu sagen? Die Zeit Nr. 19, 06. Mai
2021.
[12] Hannah Arendt: Hannah Arendt: Diskussionen mit Freunden und Kollegen in Toronto
(1972), in: Ich will verstehen, München 1996.
[13] Elisabeth Young-Bruehl: Hannah Arendt. Leben, Werk und Zeit, Frankfurt am Main
1991.
[14] Jürgen Habermas: Philosoph-politische Profile, Frankfurt am Main 1981.
[15] Waltraud Meints-Stender: Hannah Arendt und das Problem der Exklusion – eine
Aktualisierung, in: Hannah Arendt: Verborgene Tradition – Unzeitgemäße Aktualität, hg.
Heinrich-Böll-Stiftung, Berlin 2007.
[16] Seyla Benhabib: Hannah Arendt. Die melancholische Denkerin der Moderne, Hamburg
1998.
[17] Günter Gaus im Gespräch mit Hannah Arendt, 28.10.1964, https://www.rbb-
online.de/zurperson/ interview_archiv/arendt_hannah.html
[18] Ralf Dahrendorf: Versuchungen der Unfreiheit. Die Intellektuellen in Zeiten der Prüfung,
Bonn 2006.
Rezension von
Dr. phil. Bruno Heidlberger
Studienrat für Politik, Philosophie, Geschichte. Ehemals Lehrbeauftragter an der TU Berlin,
aktuell an der Medizinischen Hochschule Brandenburg (MHB) und Humboldt- Universität
Berlin.
Zitiervorschlag
Bruno Heidlberger. Rezension vom 06.07.2021 zu: Richard J. Bernstein: Denkerin der
Stunde. Über Hannah Arendt. Suhrkamp Verlag (Berlin) 2020. ISBN 978-3-518-42944-0. In:
socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/28027.php,
Datum des Zugriffs 11.09.2021.