Datum: 08.02.2012
Autor: Arnold Retzer
Rezensent: Siegfried Alexander Henzl
Systemische Familientherapie der Psychosen, 2003 – Arnold Retzer
Rezensent: Siegfried Alexander Henzl, www.henzl.at
Aus: Zeitschrift für systemische Therapie und Beratung 4/2004
„Psychosen sind widersprüchlich und bewirken oftmals Widersprüchlichkeit. Einerseits stellen sie eine vielfältige Verlockung dar, für manche Psychotherapeuten und für manche Entwicklungen psychotherapeutischer Theorien und Methoden
So ist die Entwicklung der systemischen Familientherapie ohne die verlockende Herausforderung der Psychosen gar nicht denkbar“ (S.1). In diesem ersten Satz unter dem Vorworttitel „Die Verlockung des Wahnsinns“ nennt Retzer scheinbar sein urpersönliches Ansinnen, sich der Verlockung einer systemisch theoretischen und methodischen Grundlegung der Psychosentherapie in der systemischen Familientherapie zu stellen.
Als Mitglied der Heidelberger Gruppe war Retzer nicht unwesentlich an einer systemisch klinischen Theorienbildung der systemischen Familientherapie der Psychosen beteiligt. Auch wenn dieses Unternehmen nun schon fast eineinhalb Jahrzehnte zurückliegt ist an der thematischen Brisanz, vor allem in therapeutischen Kontexten wie Psychiatrie, ambulante therapeutische Betreuungseinrichtungen, etc., noch nichts verloren gegangen. Retzer legt jetzt nach meiner Beurteilung ein Lehrbuch systemischer Psychosentherapie vor, welches angehende oder seiende Psychotherapeuten in die Grundprinzipien systemischer Familientherapie einführt.
In einem weiteren Kapitel wird ein systemisches Psychosenmodell entwickelt. Über fast die Hälfte des Buches werden im Kapitel „Systemische Familientherapie der Psychosen“ das methodisches Vorgehen durch den systemischen Therapeuten zusammengefasst. Als interessierter Leser hat man das Gefühl, von Retzer mittels markierenden Randüberschriften, behutsam an die Hand genommen und geführt zu werden durch die Niederungen systemischer Begrifflichkeiten oder Konzeptionen von Kommunikation und „psychotischen Konfliktmanagements“, synchroner und diachroner Zeitorganisation. Am Ende eines jeden Kapitels steht eine kurze Zusammenfassung. Damit wird für den Leser die ungemeine Dichte und Komplexität des Beschriebenen reduziert.
Auf Seite 57 versucht Retzer klar zu machen, dass es sich beim „systemischen Psychosenmodell“ um ein Modell und nicht die Wirklichkeit handelt. „Ein Modell soll ein Verständnis einer komplexen Situation und eine leichtere Orientierung in dieser komplexen Situation ermöglichen, wie es etwa eine Landkarte als Modell einer Landschaft tun kann.“ Damit unterscheidet er sich zu anderen Theoretikern und ihren Theorien, die scheinbar eine Realität von Psychose suggerieren wollen. Die theoriebildende Arbeit basiert auf der konstruktivistischen These, Krankheit als eine Bedeutungsgebung von Phänomenen durch einen Beobachter zu definieren. „Der Beobachter entwickelt durch seine Beschreibungen, Erklärungen und Bewertungen eine mehr oder weniger komplexe Krankheitstheorie (S.113)“. Damit erzeugen Beobachter vielmehr kommunikative und soziale Wirklichkeiten, die mit Begriffen wie Beziehungsgestaltung und/oder Beziehungsrealität zu einer differenzierten Darstellung der Psychosen führen. Retzer zeigt auf, wie eng der positive Verlauf psychotischer Karrieren nach systemischer Familientherapie damit beknüpft ist, „wie weit sich Krankheitskonzepte des Patienten und dessen Angehörigen erweichen oder auflösen lassen“. Um dieses Ziel zu erreichen werden folgende Vorgangsweisen diskutiert: Die sprachliche Transformation von Eigenschaften in Verhalten, die zeitliche und räumliche Kontextualisierung des Verhaltens, die Beschreibung von Interaktionszirkeln zwischen den Verhaltensbeiträgen von relevanten Personen, die Beschreibung der Erzeugung der Symptomatik und die Veränderung der Topografie der Probleme mittels doppelter Externalisierung. Beispielhaft sei hier aus dem Buch herausgegriffen, wie Retzer aus der therapeutischen Praxis theoretisiert und mit rekursiver Präzision Aus-und Wechselwirkungen des kommunikativen Prozesses im therapeutischen Setting deutlich macht. Seiner Meinung nach fordern etwa schizophrene Verhaltensweisen, die sich in einer extremen Gleichzeitigkeit der synchronen Dissoziation und einer damit einhergehenden Illusion der Ambivalenzfreiheit zeigen, vom Patienten aber zumeist selbst als eine selbst konfusionierende Getriebenheit erlebt wird, den Therapeuten heraus. Extrem weiche Beziehungsrealitäten vermeiden aus seiner Sicht Konflikt, Trennung und Schuldzuschreibung durch Kommunikationsuneindeutigkeit und -abweichung. „Durch die Vermeidung verlässlicher Kommunikationsmuster, Beziehungs-strukturen und -definitionen wird versucht, dies zu erreichen. Ergebnis ist die Erzeugung von Bedeutungslosigkeit bzw. Bedeutungseindeutigkeit. Abgrenzung und ein Gefühl von Autonomie wird durch Unverstehbarkeit hergestellt (S.147)“. Warum aber Familientherapie? Es geht heute nach Retzer in der systemischen Familientherapie nicht mehr darum, so wie noch nach der Mitte des letzten Jahrhunderts, die Familie als verursachenden Entwicklungsrahmen psychotischen Verhaltens zu erforschen. Vielmehr geht es um die Bereitstellung einer krankheitsadäquaten familiären Umgebung oder Betreuung. Dabei zeigt sich immer deutlicher, welche antipsychotische Wirkungen und Möglichkeiten das familiäre System und die familiäre Kommunikation haben können. Nach systemischer Familientherapie, so eine Katamnesestudie zur Evaluation systemischer Familientherapie bei Psychosen, zeigte sich eine Reduktion der Rückfall-Raten und eine Besserung. Darauf wird am Ende des Buches, unter der Überschrift Evaluation und Schlussfolgerungen für die Praxis abschließend eingegangen. Fazit: Ein Buch, das herkömmliche Vorstellungen über Therapie psychotischen Verhaltens in Frage stellt und versucht, die aus einer mit Mythen belegten Tradition erwachsenden Hintergründe im Umgang mit Psychosen aufzuweichen.
Siegfried Alexander Henzl