Ein Dinosaurier im Heuhaufen – Streifzüge durch die Naturgeschichte

Autor: Steven Jay Gould
Verlag: S.Fischer-Verlag, Frankfurt am Main 2000, 604 Seiten
Rezensent: Gerald Mackenthun
Datum: 15.01.2017

 

Zu den wirkmächtigsten Sätzen, die Darwins Evolutionstheorie prägten, gehört der vom „survival of the fittest“. Wie man heute weiß, ist dieser Satz sowohl unsinnig als auch falsch. Er ist unsinnig, weil er tautologisch ist. Wer lebt, ist per Definition angepasst. Wer angepasst ist, überlebt; wer überlebt, ist erwiesen angepasst.

Der Satz ist inhaltlich falsch, indem ersichtlich nicht nur die „Angepasstesten“ überleben, sondern auch alle, die mehr oder weniger mit den jeweils vorgefundenen Umgebungen zurechtkommen und zufällig genug zu fressen finden und nicht selbst gefressen werden. Das Angepasst-Sein und damit das Überleben ist kein Verdienst des Einzelnen oder seiner Spezies, sondern in aller Regel nur dem Zufall zu verdanken. Dieser kann in vielfältiger Form über das Individuum hereinbrechen, völlig unabhängig von den Intentionen und Lebensweisen des Einzelnen, meist in Form von Fressfeinden oder wettermäßigen Extremen. Man sollte richtiger davon sprechen, dass „der zufällig Glück Habende überlebt“ („survival of the fortunate“).

Der 2002 verstorbene amerikanische Evolutionsbiologe Stephen Jay Gould von der Harvard Universität schrieb über 25 Jahre lang in der Zeitschrift Natural History Monat für Monat einen interessanten, meist mit einer Prise Humor gewürzten Aufsatz über die sich ständig weiterentwickelnde Evolutionstheorie. Dieses Buch vereint einige dieser Aufsätze. Gould fand einen besonderen Genuss darin, zähe Legenden aus dem Bereich der Naturgeschichte zu zerpflücken. Die Meinung von einem naturnotwendigen Fortschritt des Lebendigen hin zu immer komplexeren Organismen beispielsweise ist für Gould „die tiefgreifendste falsche Vorstellung, die ein Publikum aus intelligenten, gebildeten Laien über die Geschichte des Lebens hegt“. Der Mensch, betont Gould, ist das unwahrscheinliche Produkt einiger globaler Katastrophen und keineswegs Höhepunkt einer steten Entwicklung des Lebendigen mit dem Ziel der Vollkommenheit.

Der Titel spielt an auf die Grabung nach Dinosaurierskeletten, die zum Ergebnis hatte, dass der Zeitabschnitt des Niedergangs der Echsen mit fünf Millionen Jahre wesentlich kürzer war als bislang angenommen. „Dinosaurier“ sollte laut Gould ein Wort des Lobes sein. Sie herrschten über 100 Millionen Jahre lang und starben nicht wegen ihres angeblich zu kleinen Gehirns aus. Der Homo sapiens ist noch nicht annähernd eine Million Jahre alt und habe – ausschließlich durch eigene Schuld – nur sehr beschränkte Aussichten auf eine lange Lebensdauer in der Erdgeschichte.

Zu Darwins Zeiten war noch unklar, auf was sich das „Überleben“ bezieht: das Individuum, die Population, die Art (Variante), die Spezies (Fortpflanzungsgemeinschaft) oder – wie seit wenigen Jahrzehnten überhaupt denkbar – die genetischen Merkmale einer Spezies? Darwins Mechanismus der „natürlichen Zuchtwahl“ („sexuelle Selektion“) beruht auf dem höheren Fortpflanzungserfolg von Individuen, die als besonders beeindruckend imponieren, also zufällig bestimmte Eigenschaften besitzen, und deshalb mehr überlebende Nachkommen hinterlassen. Beeindruckende Merkmale wie ein besonders großes Geweih mögen Weibchen anlocken, können aber im Alltag irrelevant oder gar hinderlich sein.

Als zweiter Mechanismus wirkt die „natürliche Selektion“. Auch er ist vom Zufall und von Unordnung geprägt. Individuen und Populationen konkurrieren um Nahrung und sind selbst Nahrungsquelle. Die konkreten Ausformungen sind oftmals bizarr und nicht als Vorbild für den Menschen geeignet. Die ausgeschlüpften Larven von Milbenweibchen beispielsweise ernähren sich in den ersten Stunden vom Körper ihrer Mutter, indem sie ihn von innen heraus auffressen. Zwei Tage später erreichen die Nachkommen ihr Reifestadium, das einzige Männchen kopuliert mit allen seinen Schwestern.

Der dritte Mechanismus ist die zufällige Mutation. Zu stark abweichende Mutationen sind nicht lebensfähig. Leichte, unscheinbare Mutationen können zu einem Vorteil werden, wenn sich die Umwelt verändert, sodass diese Mutationen das Überleben erleichtern. Auch das ist ein Spiel des Zufalls.

Der Beweis für die Evolution liegt nach Gould gerade in den Unvollkommenheiten, die sich ein Gott niemals hätte erlauben können. Dies habe Darwin verstanden, schrieb er in einem seiner früheren Bücher (Der Daumen des Panda, 1989). In einem Buch über Orchideen, das von der Fremdbestäubung handelt, stellte Darwin heraus, dass Orchideen nicht von einem vorbildhaften Ingenieur geschaffen wurden; sie sind aus einer begrenzten Anzahl verfügbarer Komponenten behelfsmäßig zusammengesetzt.

Unvollkommenheit zeige sich auch am titelgebenden Daumen des Panda, der lediglich eine Vergrößerung eines vorhandenen Mittelhandknochens ist. Mit diesem Daumen, einem scheinbar sechsten Finger, streift der Panda Eukalyptusblätter von den Stängeln. Das Gegenstück, das sogenannte tibiale Sesambein, findet sich im Fuß des Pandas. Dieses verlängerte Beinchen bringt, soweit man es sehen kann, keinerlei Vorteile mit sich und hat auch sonst keine Funktion.

Kein Beweis für die Evolution gefiel Darwin besser als das Vorhandensein von rudimentären oder verkümmerten Strukturen, also von Teilen in einem merkwürdigen Zustand, die den Stempel der Unbrauchbarkeit tragen. Die Evolution kann dabei auch rückwärts gehen; Tiere, die an lichtlosen Orten leben, oder der Maulwurf verloren ihre Augen. Organismen weisen eine Menge skurriler Kennzeichen auf, welche nicht unbedingt das Überleben fördern, die aber immerhin nicht allzu viel Schaden anrichten.
Es ist ein Rätsel, warum die Evolution auf der Erde drei Milliarden Jahre brauchte, um höhere Tiere und komplexere Formen des Lebens zu entwickeln. Gerade diese lange Dauer spricht gegen eine der Evolution inhärente Perfektionierung. Würde in ihr eine Vervollkommnungskraft wirken, hätte der Mensch schon viel eher auf der Bildfläche erscheinen müssen – und vielleicht in einem weiteren Schritt schon längst von einem noch komplexeren Übermenschen abgelöst sein müssen. Doch die Evolution hat sich nicht gerade beeilt, den Menschen hervorzubringen. Säugetiere haben allerhand geleistet, doch die Standfestigkeit von Dinosauriern müssen sie erst noch beweisen. Aussterben ist keine Schande, es ist ein unvermeidlicher Teil des Lebens. Es ist letztlich das Schicksal aller Arten, nicht das Los unglücklicher und schlecht ausgestatteter Lebewesen.

An Gould faszinieren ein unverbrüchliches Engagement für rationales Denken und der Kampf gegen den biologischen Determinismus. Schlechte, vorurteilsbeladene Argumente können schlimme, ja tödliche Folgen haben. Gould arbeitet dies am Beispiel der Eugenik heraus. Die negative Eugenik der Nazis sollte auch dem letzten freundlichen Eugeniker die Augen darüber öffnen, zu welchem Missbrauch diese Theorie fähig ist. Jeder Mensch sollte die wissenschaftlichen und politischen Verwicklungen verstehen, die unser Leben durchziehen, um an der Überwindung seiner eigenen Beschränkung und Engstirnigkeit mitzuarbeiten