Autor: Klaus Grawe
Verlag: Hogrefe, Göttingen 2004, 510 Seiten
Rezensent: Gerald Mackenthun
Datum: 10. Februar 2021
Thema: Klaus Grawe und sein Team an der Universität Bern (Schweiz) hatten 1998 das stark beachtete Buch Psychologische Therapie über Wirkmechanismen in der Psychotherapie vorgelegt. Sie formulierten darin fünf allgemeine Prinzipien, die ihres Erachtens auf alle Schulen der Psychotherapie zutreffen. Grawes Buch Neuropsychotherapie von 2004 stellt nach eigener Aussage eine Weiterentwicklung und Präzisierung seiner „Konsistenzstheorie“ dar. Grawe äußert die Gewissheit, „dass die Psychotherapie aus den Naturwissenschaften entscheidende innovative Impulse für eine beschleunigte Weiterentwicklung erhalten kann“ (S. 12). Grawes Buch Neuropsychotherapie ist eine gründliche Auseinandersetzung mit den Implikationen neurobiologischer Forschung für die dynamischen Psychotherapien (weniger für die Verhaltenstherapie). Die Befunde der Neurobiologie werden ausführlich erörtert, um dann Schlussfolgerungen für die Psychotherapie zu ziehen.
Der Autor entwickelte im Laufe seiner wissenschaftlichen Karriere unter anderem die Schemaanalyse als Weiterentwicklung der Plananalyse. In diesem Zusammenhang postulierte er vier menschliche Grundbedürfnisse, deren Erfüllung bzw. die Angst vor deren Nichterfüllung zu Annäherungs- und Vermeidungsschemata führe, die in der Planung einer erfolgreichen Therapie zu berücksichtigen seien. 1994 veröffentlichte er Psychotherapie im Wandel. Diese fast 900 Seiten umfassende Publikation enthielt eine nach wissenschaftlichen Kriterien durchgeführte Metaanalyse von 897 Wirksamkeitsstudien. Da seine Forschungsergebnisse nahelegten, die Verhaltenstherapie erfülle wissenschaftliche Kriterien am ehesten und sei besonders wirksam, stand er fortan bei Vertretern der nicht verhaltenstherapeutisch orientierten psychotherapeutischen Richtungen in der Kritik. In Zuge seiner Suche nach schulenübergreifenden Grundlagen einer Psychologischen Therapie (Stichwort Klärungs- bzw. bewältigungsorientierte Therapie) und ihren gemeinsamen Wirkfaktoren extrahierte er als gemeinsame Grundlage seine Konsistenztheorie. In seinem letzten, 2004 veröffentlichten Werk Neuropsychotherapie verschmolz er seine Theorien mit den Ergebnissen der Neurowissenschaften. Grawe starb 2005 in Zürich im Alter von nur 62 Jahren.
Entstehungshintergrund: Die Geschichte insbesondere der dynamischen (psychoanalytischen und tiefenpsychologischen) Schulen ist gekennzeichnet von einem langanhaltenden und immer noch nicht völlig überwundenen Streit über die „richtige“ Theorie und Praxis, was schon zu Zeiten Sigmund Freuds zu zahlreichen Abspaltungen und Schulgründungen führte. Grawes Hauptbestreben war es, anhand empirisch überprüfbarer Kriterien die Wirksamkeit von Psychotherapie schulenübergreifend zu verbessern. Die Überprüfung von empirischen Studien und die Formulierung von fünf Wirkmechanismen waren wichtige Etappen, um seinem Ziel näher zu kommen, begleitet von wütendem Protest jener, denen er mangelnde Evidenz vorwerfen konnte.
Aufbau: Das 510 Seiten starke Buch Neuropsychotherapie hat sechs Hauptkapitel. In der Einleitung betont er, dass die Forschungen und Erkenntnisse der Neurowissenschaften „uns alle“ angehen, nicht nur Psychiater und Psychotherapeuten. Das zweite Hauptkapitel von rund 90 Seiten listet auf, „was Psychotherapeuten über das Gehirn wissen sollten“. Es geht dabei hauptsächlich um die neuronale Arbeitsweise des Gehirns einschließlich des Bewusstseins aus neuronaler Sicht, die Beschreibung neuronaler Plastizität und die Bipolarität neuronaler und psychischer Aktivitäten.
Das dritte Kapitel beschreibt die neuronalen Korrelate psychischer Störungen: was geschieht im Gehirn, wenn man (von außen) eine psychische Störung wahrnimmt? Im vierten Hauptkapitel im Umfang von fast 180 Seiten entwickelt Grawe eine Theorie der Bedürfnisbefriedigung: Die Frustration basaler Bedürfnisse sei der Hauptgrund für psychische Störungen – und umgekehrt: die adäquate Bedürfnisbefriedigung insbesondere im Kindesalter sei die entscheidende Grundlage für psychische Gesundheit.
Das fünfte Kapitel zieht „Schlussfolgerungen für die Psychotherapie“. Die „Konsistenzverbesserung“ sei das übergreifende Ziel jeglicher Psychotherapie. Psychische Störungen resultierten aus misslungener Inkonsistenzregulation. Das bedeutet, dass der Mensch mit psychischer Störung in der Kindheit seine grundlegenden Bedürfnisse nicht befriedigen konnte (insbesondere weil die primären Bezugspersonen dazu nicht in der Lage waren, aus welchen Gründen auch immer), somit grundlegende Selbstwirksamkeitsmechanismen nicht erlernen konnte und später im Erwachsenenalter daran scheitert, seine Bedürfnisse zu erkennen und durchzusetzen. Die Psychotherapie nach Grawe wirke über eine Konsistenzverbesserung. Psychotherapie solle störungsorientiert arbeiten und den Patienten über kleine Fortschritte zu einem gesteigerten Selbstwirksamkeitserlebnis verhelfen. Auf neuronaler Ebene finde ein „Lernen“ statt, d. h. pathologische neuronale Bahnungen werden durch gute neue Erfahrungen überschrieben. Der Autor gibt zum Schluss des fünften Kapitels relativ konkrete Leitregeln für die Therapieplanung und den Therapieprozess. Das sechste Kapitel zieht ein Resümee und gibt einen Ausblick auf die Zukunft der professionellen Psychotherapie. Im Anhang befindet sich ein ausführliches Stichwortverzeichnis.
Inhalt: Psychotherapie ist fundamental ein Lernprozess für die Patienten, und als solche ist sie eine Methode, das Gehirn neu zu verschalten. Psychotherapie wirkt, wenn sie wirkt, darüber, dass sie das Gehirn verändert (S. 18). Das Wunder einer wirksamen Therapie bestehe darin, dass der Therapeut seine in den Hirnstrukturen niedergelegten mentalen Fähigkeiten einsetzt, die der Patient auf der Grundlage seine im Gehirn festgelegten Strukturen aufnimmt und verarbeitet. Wenn die Hirnstrukturen beider Protagonisten einschließlich ihrer Veränderbarkeit miteinander mehr oder weniger kompatibel sind, könne das Mirakel der Psychotherapie stattfinden. Es werde aber darauf ankommen, anhand der Implikationen der Neurobiologie die Psychotherapie effektiver zu gestalten. Positive, gesunde Wahrnehmungen und Erfahrungen ergeben sich nicht einfach von selbst, auch nicht durch ein Medikament. Generell gilt: Je gravierender die psychische Störung, desto nötiger der Einsatz von Psychopharmaka. Kernaufgabe des Psychotherapeuten sei es, dem Patienten diejenigen Lernerfahrungen zu vermitteln, die nach gründlicher Abklärung einen günstigen Einfluss auf seine Probleme ausüben würde. Die Neurowissenschaften können damit aus den ausgetretenen Pfaden der gängigen Therapieschulkonzepte herausführen (S. 27). Grawe nennt „Ressourcenaktivierung“, „motivationales Priming “ und „komplementäre Beziehungsgestaltung“ als die wichtigsten Arbeitsmittel des Therapeuten (S. 32).
Die hohe Rückfallquote bei Depressionen und anderen psychischen Störungen ist neurologisch leicht zu erklären. Bestimmte Areale des Gehirns haben sich an bestimmte Zustände gewöhnt, beispielsweise ängstliches, vermeidendes Verhalten. Selbst in einer gut gelaufenen Therapie mit erheblicher Symptomreduzierung können die Nervenbahnen, die eine psychische Störung repräsentieren, leicht wieder aktiviert werden. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass diese Nervenstränge, die in eine psychische Störung geführt haben, bei nächstbester Gelegenheit in alter Weise reaktiviert werden. Die meisten Depressionen sind durch wiederkehrende depressive Episoden gekennzeichnet.
Wirkungsstudien zeigen, dass die gängigen Psychotherapien in der Regel nur bei etwa einem Drittel der Patienten gut bis sehr gut, bei einem weiteren Drittel nur mäßig und beim dritten Drittel überhaupt nicht wirken – obwohl die verschiedenen Psychotherapierichtungen dies oft optimistischer darstellen. Diese nach dem Drittel-Gesetz verlaufende Wirkung ist wesentlich dadurch begründet, dass keine selbst der bewährten Therapiemethoden bei allen Patienten gleichermaßen gut wirken und dass der jeweilige Therapieerfolg vom individuellen Ausmaß der Vorbelastung und der verfügbaren psychischen Ressourcen abhängt.
Die Verläufe von Psychotherapien ähneln sich, unabhängig von der Psychotherapierichtung. Sobald sich zwischen Patient und Therapeut ein intensives Arbeit- und Vertrauensverhältnis – therapeutische Allianz genannt – gebildet hat, kommt es oft zu einer schnellen und deutlichen Besserung der Befindlichkeit des Patienten. Die verschiedenen Therapierichtungen schreiben dies der Spezifität ihrer Methode zu. Tatsächlich handelt es sich um einen relativ unspezifischen Effekt. Insbesondere aufgrund des gegenseitigen Vertrauens von Therapeut und Patient und des gemeinsamen Glaubens an die Wirkung der therapeutischen Maßnahmen kommt es zu einer verstärkten Ausschüttung des Bindungshormons Oxytocin auf beiden Seiten. Diese leicht euphorische Stimmung bewirkt eine gesteigerte Ausschüttung von endogenen Opioiden und von Serotonin sowie einer verminderten Ausschüttung von Cortisol und anderen Stresshormonen. Hierauf beruht augenscheinlich die erste und relativ schnelle Wirkung vieler Psychotherapiemaßnahmen. Dies kann in minder schweren Fällen durchaus zu einem deutlichen Behandlungsanfangserfolg führen.
Die neuronale Arbeitsweise und Struktur ist genetisch gegeben und wird durch äußere, auch kulturelle Einflüsse innerhalb dieses gegebenen Rahmens geformt. Die Zusammenarbeit der Neurone und der Gehirnareale ist so flexibel, dass eine Vielzahl von unterschiedlichen Strukturen und damit individuellen Ausprägungen entstehen können. Es muss immer wieder an die unendliche Wechselwirkung zwischen dem Gehirn des Individuums und der Umgebung, in der er lebt, aufmerksam gemacht werden. Die Verarbeitung äußerer wie innerer Informationen bildet die Feinstrukturen des Gehirns aus und diese wiederum färben neue Informationen und Eindrücke individuell ein.
Grawe geht ausführlich auf die Biologie des Gehirns ein, beispielsweise seine Plastizität, insbesondere auf die Neurotransmitter, was hier nicht dargestellt werden soll. Von den psychischen Störungsbildern behandelt er vornehmlich die Depression, manchmal die generalisierte und die spezifische Angst, während andere Störungsbilder wie beispielsweise Zwänge nur am Rande erscheinen. Er diskutiert das, was Bewusstsein genannt wird, und unterscheidet zwischen explizitem und implizitem Funktionsmodus des Gehirns. Lernen findet schnell und konkret im expliziten Modus statt. Die grundlegenden Welterfahrungen des Individuums sind aber im impliziten Gedächtnis abgelegt und können (auch nicht durch Psychotherapie) direkt angesprochen werden. Die impliziten Gedächtnisinhalte bestimmen zu einem wesentlichen Teil das, womit sich ein Mensch im expliziten Funktionsmodus beschäftigt, was also den Inhalt seines Bewusstseins ausmacht.
Grawe fokussiert auf die motivationalen Ziele des Individuums, welche aufgespannt sind zwischen Annäherung und Vermeidung. Wie kommt es zu einer erhöhten Vermeidungsbereitschaft? Die spezifische Erfahrung und die spezifische Erfahrungsverarbeitung würden eine zentrale Rolle spielen. Um den Mechanismus und das Ergebnis im Individuum erkennen zu können, ist (wie bisher schon) biografische Arbeit notwendig. Hat Freud also doch Recht? Eine psychische Störung ist eingebettet in die Gesamtheit des psychischen Geschehens. Neuronale Strukturen interagieren miteinander. Kann man eine psychische Störung aus dem gesamten Lebensvollzug eines Individuums herauszulösen und isoliert betrachten? Und ständig stellte sich die Frage nach dem Ursprung: Bringen autonome neuronale Veränderungen psychische Störungen hervor oder wirken Erlebnisse und ihre Verarbeitung auf die Funktionsweise eines vorbestehenden Gehirns ein? Wieso entwickeln sich bei dem einen Menschen keine psychischen Störungen, bei anderen aber gleich mehrere? Gibt es Variablen, die erklären, welche spezifische psychische Störung sich entwickelt?
Im vierten Kapitel erläutert Grawe seine Hauptthesen vom Zusammenhang von „Bedürfnisbefriedigung und psychischer Gesundheit“ (ab S. 183). Konsens ist, dass der Mensch neben biologischen Grundbedürfnissen nach Luft und Nahrung hinaus spezifische psychische Bedürfnisse hat, die teils allen Menschen gemeint sind, teils individuellen Präferenzen entsprechen. Man kann deshalb nicht allgemeinverbindlich angeben, welche psychischen Grundbedürfnisse für eine gute psychische Gesundheit und Wohlbefinden erfüllt sein müssen. Generalisierungen sind problematisch und Aussagen über „den Menschen“ sollten unterlassen werden. Grawe hat meines Erachtens vollkommen Recht, wenn er Aussagen über menschliche Grundbedürfnisse ignoriert, die ohne empirische Grundlage daherkommen. Das gilt zum Beispiel für das Macht- und das Leistungsmotiv. Es ist evident, dass viele Menschen nach Macht und Leistung streben. Aber vielen Menschen geht es auch sehr gut ohne Macht und ohne Leistung.
Grawe orientiert sich an Seymore Epsteins Cognitiv Experimential Self Theory (CEST) vom Anfang der Neunzigerjahre. Epstein unterscheidet vier Grundbedürfnisse nach Orientierung, Kontrolle und Kohärenz, nach Lust, nach Bindung und nach Selbstwerterhöhung. Das erstaunt. Diese Bedürfnisse betreffen nicht die basaleren Grundbedürfnisse des Körpers, also die Biologie des Menschen. Andererseits ist die Frage nach Glück und Unglück des Menschen eine, die Psychotherapeuten und Psychotherapie zentral angeht. Es gibt viele Hinweise darauf, dass eine schwere und dauerhafte Verletzung von Bedürfnissen letztlich (für Grawe) „die wichtigste Ursache für die Entwicklung psychischer Störungen ist“ (Grawe 2004, S. 184).
Die konkreten Erfahrungen mit der sehr bescheidenen langfristigen Wirksamkeit von Depressionstherapien stehen im Widerspruch zu den veröffentlichten Befunden in den Forschungen zur Depressionstherapie. Auch Grawe ist dies aufgefallen. Er fragt sich, wie dieser Widerspruch zu erklären ist (S. 220). Die berichteten Effektstärken sind immer Mittelwerte. Von den Erfolgen müssen die Placeboeffekte, die spontanen Remissionen und die Abbrecherquote abgezogen werden. All dies eingerechnet, bleiben die Behandlungserfolge recht bescheiden.
Diskussion: Grawe ist der Meinung, dass seine „Kongruenztherapie“, die auf der zentralen Rolle der Bedürfnisbefriedigung beruht, die Therapie verändern und bessere Ergebnisse bringen wird. Die Erfassung der Inkongruenz, d. h. die unzureichende Umsetzung motivationale Ziele von Psychotherapiepatienten, sei Grundlage aller seelischen Störungen. Die Therapie habe also die Aufgabe, die mangelnde Bedürfnisbefriedigung festzustellen und an ihrer Beseitigung zu arbeiten. Damit verbundene positive Lernerfahrungen strukturieren das Gehirn partiell um und überschreiben frühere, schlechte Erfahrungen. Die in diesem Zusammenhang verwendeten Begriffe sind Selbstwerterhöhung, Selbstwirksamkeitserwartung, Selbstwertschutz, Resilienz, Meisterung neuer Situationen, Korrektur negativer emotionaler Bindung und Korrektur dysfunktionaler kognitiver Schemata, Befriedigung des Bedürfnisses nach Orientierung und Kontrolle, Vermeidung kognitiver Dissonanz und vieles mehr.
Es leuchtet nicht ein, dass die Therapie der Bindungserfahrung bzw. ihre Verbesserung eine tiefergehende und erfolgreichere Therapie hervorbringen soll. Unbefriedigende Beziehungen können durchaus Anlass zum Aufsuchen einer Psychotherapie sein. In der Therapie wird es um die Beziehungsanalyse gehen und auf eine konkrete Verbesserung bestehender Beziehungen oder die Aufnahme neuer, befriedigender Beziehungen hinauslaufen. Die Analyse des Verhaltens von Patienten anhand von Vermeidungs- und Annäherungszielen kann sinnvoll sein, wäre aber auch nur ein Aspekt der biografischen Arbeit. Positive Kontrollerfahrungen in überschaubaren Stresssituationen sind günstig für die Reifung des Gehirns. Gut gemeisterte neue Situationen sind der Motor der psychischen Entwicklung, ein Antrieb dazu, die eigenen Möglichkeiten immer weiter über den jeweils erreichten Stand hinaus zu entwickeln (S. 242). Diese Erkenntnisse sind alle nicht neu.
Wenn die Basis für psychische Störungen bereits in der allerfrühesten Kindheit gelegt werden, muss es meigentlich erstaunen, das Psychotherapie trotzdem manchmal in der Lage ist, diese Störungen zu minimieren. Grawe plädiert für eine „störungsorientierte Behandlung“ (S. 379). Schlechte Erfahrungen sollen in der Therapie durch neue und gute Erfahrungen ersetzt oder überschrieben werden (S. 381). Auch dies ist keine neue Erkenntnis. Die Fokussierung auf psychische Inkongruenz als Ursache von seelischen Störungen ist verdienstvoll, ist aber mit dem Nachteil aller anderen monistischen Ursachenerklärungen behaftet: Es wird nur ein Ausschnitt des seelischen Geschehens betrachtet. Tatsächlich treten die Störungsbilder niemals in so festen Umrissen auf, wie es die einschlägigen Lehrbüchern nahelegen. Es wird in einer Therapie nicht ausreichend sein, sich allein auf ein hohes Inkongruenzniveau (Diskrepanz zwischen Bedürfnissen und Bedürfniserfüllung) zu konzentrieren. Eine Therapie kann sehr schnell in verschiedenartige Themenblöcke zerfallen, wenn weitere Themen und Probleme hinzukommen, die mit berücksichtigt und besprochen werden müssen. Die Möglichkeiten und deren Kombinationen und Summierungen sind letztlich unüberschaubar.
Fazit: Das Buch des Berner Psychotherapieforschers Klaus Grawe ist mit das wichtigste Grundlagenwerk zur Frage, welche Bedeutung neurobiologische Erkenntnisse für die heutige Psychotherapie haben. Auf der Basis einer ausführlichen Darstellung der Arbeitsweise des Gehirns einschließlich der Botenstoffe entwickelt Grawe eine „Kongruenztheorie“ der menschlichen Psyche. Diese besagt, dass die Frustrierung basaler Bedürfnisse nach Anerkennung und Selbstausdruck Hauptursache späterer psychischer Störungen ist. Dieses Konzept ist unbefriedigend, da es für die konkrete Psychotherapie nicht sinnvoll ist, sich zu sehr auf einen einzigen psychischen Mechanismus zu konzentrieren. Psychotherapie muss und soll sehr viele Aspekte des menschlichen Lebens berücksichtigen; die Überbetonung nur eines Gesichtspunktes kann dem Patienten nicht gerecht werden.
Welchen Nutzen können aus der neurowissenschaftlichen Forschung zu psychischen Störungen für die Psychotherapie gezogen werden? Auch hier ist die Antwort ernüchternd: Im großen Ganzen der psychologischen Störungen zeichnet sich nach Grawe so gut wie kein praktischer Nutzen ab, den die Psychotherapie aus den neurowissenschaftlichen Befunden ziehen könnte. Es gebe keinen Grund, an den bisherigen psychologischen Behandlungskonzepten groß etwas zu verändern (2004, S. 179). Eine nicht erörterte Frage lautet, ob Freud im Lichte der Neurobiologie noch Recht hat, welche seiner Konzepte Bestand haben und welche abgelegt oder revidiert werden müssen. Doch dieses Buch muss erst noch geschrieben werden.